Die Vorstellung des Verfassungsschutzberichts 2024 wurde medial als “Weckruf” inszeniert – als warnendes Dokument, das mit seinen Zahlen die Republik erschüttern soll. Doch bei genauerer Betrachtung entpuppt sich der rund 400 Seiten starke Bericht nicht nur als Inventar politisch motivierter Straftaten, sondern als Spiegel gesellschaftlicher Verwerfungen – und mehr noch: als Instrument diskursiver Rahmung. Im Zentrum: der Rechtsextremismus. Doch flankiert wird seine Analyse von politisch aufgeladenen Begriffen wie “Delegitimierung des Staates”, die einer kritischen Entschlüsselung bedürfen. In den Gesprächen des Nachrichtensenders »Phoenix« (10.06.25) mit dem Soziologen Matthias Quent und dem Journalisten Andreas Speit offenbart sich ein Bild, das nicht nur die Sicherheitslage beschreibt, sondern auch deren Wahrnehmung als politisches Projekt problematisiert.
Der rechte Rand – kein Rand mehr
Laut Verfassungsschutzbericht gelten mittlerweile 50.250 Personen als rechtsextremistisch, 15.300 davon als gewaltorientiert. Ein Anstieg, den Matthias Quent als “logische Konsequenz” einer langjährigen Entwicklung deutet. Rechtsextremistische Gewalt sei kein Phänomen der letzten Jahre, sondern Ausdruck einer kontinuierlichen Radikalisierung. Für Andreas Speit ist diese Entwicklung noch tiefgreifender: Was einst als Randerscheinung galt, spricht heute mit bürgerlicher Stimme und wirkt bis in die Mitte der Gesellschaft hinein.
Die AfD, weiterhin als “Verdachtsfall” eingestuft, sei laut Quent ein Kristallisationspunkt dieser Entwicklung. Der Anteil an offen rechtsextremen Parteimitgliedern habe sich laut dem Bericht “verdoppelt”. Wahlstatistiken zeigten jedoch ein anderes Bild: Die Partei profitiert offenbar von ihrer Opfererzählung, die durch staatliche Beobachtung nur bekräftigt wird. Quent warnt vor einer gefährlichen Normalisierung – nicht nur durch Verharmlosung, sondern durch habituelle Gewöhnung.
Junge Männer – das neue Trägermedium des Autoritären
Ein zentrales Motiv beider Gespräche ist die Radikalisierung der Jugend – insbesondere junger Männer. Speit betont, dass nicht pauschal die Jugend rechtsextrem wähle, sondern vor allem junge Männer empfänglich für soldatische, autoritäre und identitäre Ideale seien. Quent verweist auf eine zerschlagene Terrorzelle mit Mitgliedern im Teenageralter und konstatiert: “Radikalisierung kennt kein Alter mehr.”
Digitale Medien beschleunigen diese Prozesse. Was früher am Schulhof getuschelt wurde, geht heute in Echtzeit um die Welt. TikTok, Telegram und YouTube fungieren als ideologische Marktplätze, auf denen kulturelle Codes, Memes und Feindbilder kursieren – visuell, affektiv, effektiv. Beide Experten mahnen: Die Prävention bleibt zurück. Es fehlt an Mitteln, Programmen und politischer Rückendeckung für eine professionelle, sozialräumlich verankerte Gegenstrategie.
Delegitimierung – ein Gummibegriff als politisches Schwert
Mit besonderer Brisanz behaftet ist die neue Kategorie im Bericht: “verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates”. Was auf den ersten Blick plausibel klingt, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als diffuses Konstrukt. Die Kriterien sind vage, die Schwelle zur Kriminalisierung von Regierungskritik niedrig.
Es geht nicht nur um Reichsbürger oder QAnon-Gläubige, sondern auch um Demonstrationen gegen Pandemiemaßnahmen oder Energiepreise, die – je nach Narrativ – plötzlich unter Extremismusverdacht geraten können. Der Staat reklamiert damit Deutungshoheit über die Legitimität von Kritik. Ein gefährlicher Trend in einer Demokratie, die von dissentierender Rede lebt.
Das Magazin „Kompakt“ – Agitprop in Hochglanz
Ein weiteres zentrales Element des Berichts ist das Verbotsverfahren gegen das rechtsextreme Magazin „Kompakt“. Für Quent ist das Blatt mehr als ein Medium: Es ist ein Kampagneninstrument, ein Netzwerk, ein strategischer Knotenpunkt der Rechten. Videoproduktionen, Social Media, Vernetzung mit AfD-nahen Organisationen wie „1 Prozent“ – all das formiert eine soziale Bewegung von rechts. Die Pressefreiheit steht hier in einem Spannungsverhältnis zu organisierter Agitation. Die Bewertung dieses Spannungsfeldes wird juristisch, aber auch demokratiepolitisch ein Lackmustest.
Linke Milieus, Klimabewegung, Islamismus – eine Frage der Gewichtung
Auch linke Gruppierungen finden im Bericht Beachtung. 5.850 linksextreme Straftaten, ein Anstieg um 39 Prozent. Doch während der Rechtsextremismus im Bericht ein gesamtheitliches Bedrohungsszenario entfaltet, bleiben linke Vernetzungen diffus. Die Klimabewegung wird teils indirekt unter Verdacht gestellt, konkrete Belege fehlen häufig. Bei islamistischem Terrorismus konstatiert der Bericht zwar eine “anhaltende Gefahr”, doch ohne konkrete Anschlagspläne. Die Aufmerksamkeit liegt klar auf rechts – eine Schwerpunktsetzung, die sowohl Speit als auch Quent aus unterschiedlichen Motiven teilen, ohne sie unkritisch zu übernehmen.
Die diskursive Funktion des Berichts
Der Verfassungsschutzbericht ist nicht nur ein Lagebericht. Er ist auch ein diskursives Instrument. Er definiert Kategorien, legitimiert Maßnahmen, beeinflusst Debatten. Das zeigen nicht nur die Medienreaktionen, sondern auch die politische Anschlussfähigkeit des Berichts: Er liefert narrative Munition für Gesetzesverschärfungen, Haushaltsumwidmungen und symbolische Politik.
Andreas Speit nennt es eine “entsicherte Zeit” – eine Gesellschaft, die sich in Krisen erschöpft, ohne Halt, ohne Zukunftsnarrativ. In dieser Gemengelage wird Sicherheit zur Chiffre für Ordnung, und Ordnung zum Legitimationskern für autoritäre Verschiebungen.
Was fehlt, ist der Mut zur strukturellen Antwort
Beide Experten mahnen ein strukturelles Umdenken an. Prävention darf nicht länger das Anhängsel sicherheitspolitischer Erwägungen sein. Es braucht eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit den kulturellen, ökonomischen und sozialen Ursachen von Radikalisierung. Wer jungen Menschen keine Perspektive bietet, darf sich über deren Orientierungslosigkeit nicht wundern. Wer soziale Arbeit unterfinanziert, braucht sich über Parallelöffentlichkeiten nicht zu empören.
Quent formuliert es deutlich: „Wir sehen, dass die Problembeschreibungen immer größer werden, die Gewalt immer intensiver – aber es gibt keine entsprechende Zunahme an Programmen oder Finanzierungsmitteln.“ Die Lücke zwischen sicherheitsbehördlicher Repression und zivilgesellschaftlicher Prävention klafft – und sie wächst.
Ein Bericht, der mehr aufwirft als beantwortet
Der Verfassungsschutzbericht 2024 dokumentiert eine Eskalation – nicht nur auf den Straßen und in den Chatgruppen, sondern auch im sicherheitspolitischen Denken. Die Gefahr von rechts ist real – das zeigen die Zahlen, das zeigen die Entwicklungen. Doch ebenso real ist die Gefahr einer sicherheitspolitischen Rhetorik, die Differenzierungen verwischt, kritische Stimmen unter Generalverdacht stellt und zivilgesellschaftliches Engagement delegitimiert.
Matthias Quent und Andreas Speit zeigen mit ihren Analysen, dass der Bericht nicht nur Symptome beschreibt, sondern selbst Teil der Dynamik ist, die er zu bändigen vorgibt. Es ist Zeit, nicht nur über Sicherheit zu sprechen – sondern über die Bedingungen eines demokratischen Gemeinwesens, das Sicherheit nicht gegen Freiheit stellt, sondern aus Freiheit heraus schützt.
Quellenverzeichnis
ARD Tagesthemen. (2025, 10. Juni). Interview mit Alexander Dobrindt zum Verfassungsschutzbericht 2024. https://www.tagesschau.de
Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI). (2025). Verfassungsschutzbericht 2024. Bundesamt für Verfassungsschutz. https://www.verfassungsschutz.de
Phoenix. (2025, 10. Juni). Interview mit Prof. Dr. Matthias Quent zur Vorstellung des Verfassungsschutzberichts 2024 [Video-Transkript]. https://www.youtube.com
Phoenix. (2025, 10. Juni). Interview mit Andreas Speit zum Verfassungsschutzbericht 2024 [Video-Transkript]. https://www.youtube.com
