Fußball: Wenn die Kurve regiert

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Das neue Ernst-Abbe-Sportfeld sollte ein Symbol für Aufbruch sein: 60 Millionen Euro, eines der modernsten Stadien in den Regionalligen, ein sichtbares Versprechen für sportliche Ambitionen. Stattdessen ist es zum Schauplatz eines internen Machtkampfs geworden, der exemplarisch zeigt, wie sich lokale Fußballvereine in der Regionalliga Nordost von jenen Gruppen instrumentalisieren lassen können, die einst nur Supporter waren: den Ultras in ihrer jeweiligen Kurve. Die MDR-Dokumentation »Fußball unter Druck« zeichnet nach, wie aus Pyros, Choreos und bedingungslosem Support eine politische Praxis mit direktem Einfluss auf Vereinsentscheidungen wurde — bis zur offenen Konfrontation mit Stadt, Polizei und möglichen Lizenzrisiken.

»Das Stadion gehört schlichtweg uns«, heißt es in einer Sequenz, in der die Jenaer Südkurve ­ihr Recht auf den angestammten Block einfordert. Was nach romanhafter Kurvenromantik klingt, entpuppt sich im Film schnell als scharfkantige Machtstrategie: Unterschriften-Kampagnen, Demonstrationen vor dem Rathaus, massiver Druck auf Stadträte. Und, deutlich gravierender: eine Präsenz in der Vereinsorganisation, die bis in die Geschäftsstelle reicht. »Dieses Zukunftskonzept … ist keine lose Absichtserklärung, vielmehr eine konkrete Gebrauchsanweisung«, sagt die Reportage pointiert — und beschreibt damit, wie Ultra-Positionen zu offiziellen Vereinspositionen werden.

Die dokumentierte Fallstudie beim FC Carl Zeiss Jena ist in mehreren Punkten alarmierend. Über Jahre konnten Ultras Mehrheiten in Mitgliederversammlungen organisieren; Veto-Befugnisse im Wahlausschuss erlauben es, »ultra-kritische Kandidaten« auszusieben. Ein Zukunftskonzept, das »aus unseren Kreisen« stamme, wurde von den Mitgliedern durchgewunken und avancierte zur Norm. Und die personelle Verstrickung ist eindeutig: Seit Juni 2024 ist ein führendes Ultras-Mitglied stellvertretender Geschäftsstellenleiter und verfügt über Handlungsvollmacht. Das wirft die Frage auf, »wessen Interessen vertrete ich hier eigentlich?« — wie der Sportrechtler Rainer Cherkeh im Film formuliert: ein möglicher Loyalitätskonflikt.

Sportlich wird die Dynamik handfest spürbar: Mit der kurveninternen Ablehnung eines Transfers (Fall Kay Seidemann) griff die Szene unmittelbar in Kaderpolitik ein. Der Sportdirektor wird offenbar direkt konfrontiert: »Das könnt ihr nicht machen«, soll es geheißen haben — und auch wenn der Vertrag letztlich unterschrieben wurde, blieb die Botschaft klar: Bestimmte Personalentscheidungen werden künftig mit einem informellen Vetorecht seitens der Kurve verhandelt. Für ein professionelles Agieren ist das Gift: Spieler- und Trainerentscheidungen sind Teil sportlicher Kompetenz, nicht das Terrain von Fangruppen.

Die Sicherheitsfrage kippt das Problem von intern nach öffentlich: Beim Heimspiel gegen Chemie Leipzig am 30. November 2024 eskalierte die Lage mit 79 Verletzten — Bilder von geworfenen Pyros, Bierzeltgarnituren als Wurfgeschosse, gezielten Angriffen gegen Polizeikräfte bleiben haften. Die Stadt verhängte weitreichende Hausverbote, die juristisch offenbar Bestand haben. Die Antwort des Vereins? Verunsicherung und strategische Zurückhaltung. Die Geschäftsführung habe sich die Polizeivideos angesehen, heißt es im Film, doch die öffentliche Positionierung blieb aus. Stattdessen beklagte der Verein in einer Stellungnahme den »unverhältnismäßigen Polizeieinsatz«. Diese zweigleisige Haltung — Abgrenzung nach innen, Beschwichtigung nach außen — öffnet ein Fenster, in dem die Kurve weiter ihre Deutungshoheit konsolidieren kann.

Das Interesse der Stadtverwaltung ist handfest: Sicherheitsnachweise werden nicht unterschrieben, damit droht dem Verein eine Lizenz-Blockade bei einem möglichen Aufstieg. Das neue Stadion, bis vor kurzem Investitionsruine-verhinderer und Prestigeobjekt, könnte zur Bauruine für höhere Ligen werden — aus politisch-organisatorischen Gründen, nicht sportlichen. »Für Verein und Ultras gibt es jetzt eigentlich nur noch zwei Optionen: Kompromiss … oder Chaos«, fasst die MDR-Erzählung zusammen. Das sportliche Szenario ist klar: Kompromisse auf Kosten der Ordnung gefährden das Aufstiegspotenzial; Unnachgiebigkeit riskiert den sozialen Frieden und Konfrontation mit Anhängern, die über Mobilisierungsfähigkeit verfügen.

Aus fußballerischer Perspektive sind die Konsequenzen konkret: Stadionkonzepte, Sicherheitskosten und der freie Raum der Mannschaftsarbeit werden instrumentalisiert. Wenn Spieler wie Kay Seidemann per Dienstanweisung vom Vereinsmanagement verboten werden, sich nach Spielen in die Kurve zu begeben, ist das kein Kavaliersdelikt — das ist eine Verlagerung der Entscheidungsgewalt weg vom professionellen Kern des Clubs. Vereinsführung, Sportdirektorat und Trainerstab verlieren Autonomie; Sponsoren, die in die Stadioninfrastruktur investieren, sehen ihr Engagement politisiert.

Die MDR-Doku liefert zugleich Stimmen, die differenzieren: Jonas Gabler, Ultra-Forscher, erkennt das ehrenamtliche Engagement an, macht aber eine klare Grenze: »Wenn da Straftaten begangen werden in Form von Nötigung … ist auf jeden Fall eine Grenze überschritten.« Sportrechtler verweisen auf die Möglichkeit digitaler oder anders geöffneter Mitgliederversammlungen, die Mehrheitsverhältnisse verändern könnten. Doch die Ultras formulieren unmissverständlich: »Mitglieder-Versammlung niemals digital!« — ein bezeichnender Widerspruch zwischen demokratischer Form und exklusiver Durchsetzungskraft.

Was lehrt der Fall Jena für die Regionalliga? Er ist kein isoliertes Phänomen. Die Dokumentation zeigt, wie lokale Szenen durch aktive Mitgliedschaft, strategische Bündnisse und personelle Platzierungen die institutionelle Architektur eines Vereins verändern können. Die sportpolitische Verantwortung liegt nun bei der Führung: klare Regeln, transparente Sanktionen, eine entschiedene Trennlinie zwischen Fan­engagement und Vereinsmacht. Sonst droht eine Erosion jener Grundprinzipien, die Ehrenamt und Vereinsdemokratie tragen.

Die nüchterne Kicker-Frage lautet: Wie bewahrt ein Club sportliche Handlungsfreiheit, ohne die fanatische Basis zu entfremden? Antwortversuche gibt es: strikte Compliance-Regeln für Mitarbeiter, unabhängige Schlichtungsinstanzen, verbindliche Sicherheitskonzepte und eine offensivere Kommunikationspolitik des Vorstands. Die Realität in Jena zeigt, wie schwer das ist, wenn die Kurve längst nicht mehr nur laut, sondern auch organisiert, finanziell einflussreich und personell verflochten ist.

Das Ernst-Abbe-Sportfeld bleibt ein Prüfstein — für Jena, für die Stadt, für Vereinsführung und nicht zuletzt für jene Fans, die sich als Hüter der Seele ihres Clubs verstehen. An der Grenze zwischen Mitbestimmung und Erpressung entscheidet sich, ob ein Verein noch seinem sportlichen Ziel folgen kann — oder ob er sich selbst in eine permanente Kurvenpolitik verwandelt, die am Ende Niemandem mehr nutzt: weder dem Team, noch den Helfern, noch der Stadt.

About the author

Holger Elias

Studien der Journalistik und Kommunikations-Psychologie. War beruflich als Korrespondent und Redakteur bei Nachrichtenagenturen (reuters, cna usw.), für überregionale Tageszeitungen sowie für Rundfunk und Fernsehen tätig. Lebte und arbeitete knapp acht Jahre als EU-Korrespondent in Brüssel. Als Verleger und Publizist gab er knapp 140 Buchtitel heraus.

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