Die Banalisierung des Gehorsams

D

„Ein Mensch, der sich beugt, richtet selten etwas auf.“
– Kurt Tucholsky

Ein Mann mit Brille, grauem Anzug und einem Hang zur Pünktlichkeit sitzt in einem Glaskasten. Die Weltöffentlichkeit nennt ihn einen Massenmörder. Er selbst nennt sich: pflichtbewusst. Was Hannah Arendt 1961 im Prozess gegen Adolf Eichmann beobachtete, war keine Bestie. Es war ein Beamter. Er sprach wie ein Formular, handelte wie ein Organigramm und dachte wie ein Dienstweg.

Der Gehorsam, das ist die tragische Pointe, kommt selten mit erhobener Stimme. Er ist keine Machtdemonstration – sondern eine Selbstauslöschung. Wer gehorcht, verwechselt Pflicht mit Moral, Regel mit Vernunft, Disziplin mit Wahrheit. Das ist keine Einzeltat. Es ist ein System.

Man stelle sich vor: Ein junger Mensch sitzt in einem Labor in Würzburg. Vor ihm ein Versuchsleiter. In der Hand ein Reagenzglas mit einem lebendigen Käfer. Der Auftrag: töten. Nicht aus Hass, nicht im Affekt, sondern „für die Wissenschaft“. Was tut der Mensch? Er tötet. Fast immer. Nicht, weil er überzeugt ist. Sondern weil es verlangt wird.

Das ist keine Fiktion. Das ist das Experiment von Götz, Mitschke und Eder (2023). Ein Versuch, die Mechanismen des Gehorsams in einer ethisch vertretbaren Umgebung sichtbar zu machen. Die Resultate sind beunruhigend: 96 Prozent der Versuchspersonen folgten der Anweisung, wenn diese als „Befehl“ formuliert war. Nur ein Drittel tat es, wenn ihnen ihre Entscheidungsfreiheit betont wurde. Das Verhalten ändert sich – mit dem Tonfall.

Was lehrt uns das? Dass wir keinen Diktator brauchen, um uns unterzuordnen. Eine Krawatte, ein sachlicher Hinweis, ein institutionelles Setting – und schon beginnt der Rückzug der Urteilskraft. Die Gewalt beginnt nicht mit dem Schuss. Sie beginnt mit dem Satz: „Ich bin verantwortlich – Sie müssen es nur ausführen.“

Man kann Milgram lesen und erschauern. Aber man kann auch fragen: Wo passiert das heute? Und die Antwort ist unbequem: überall. In der Polizei, wo Körper durchsucht werden, weil „es Vorschrift ist“. In der Schule, wo Kinder diszipliniert werden, weil „Regeln nun einmal Regeln sind“. Im Callcenter, wo gekündigt wird, weil „es die Software so vorgibt“. Es braucht keinen Führerbefehl. Nur ein System, das von allen ein bisschen verlangt – und niemandem das Ganze erklärt.

Die Gewalt, sagt Arendt, ist dort am gefährlichsten, wo sie sich als Verwaltung tarnt. Als Routine. Als Normalität. Und der Gehorsam ist ihr bevorzugtes Transportmittel.

Doch es gibt ein Gegenmittel: die Aufmerksamkeit. Wer fragt, wer zweifelt, wer nicht gleich „ja“ sagt, hat schon begonnen, sich zu entziehen. Nicht aus Rebellion. Sondern aus Anstand. Aus Menschlichkeit. Aus dem Wissen, dass Regeln auch falsch sein können – und Pflichterfüllung kein Ehrenzeichen ist.

Die Banalisierung des Gehorsams beginnt im Kleinen. Ihre Entzauberung auch.

Befehle ohne Ausrufezeichen

Eine kleine Stilkunde des autoritären Sprechens

„Es gibt Befehle, die werden nicht gegeben – sie werden verinnerlicht.“
– Fritz Stern (sinngemäß)

Früher sagte die Autorität: „Du tust das jetzt.“ Heute sagt sie: „Das ist gängige Praxis.“ Der Tonfall ist milder geworden. Die Wirkung ist geblieben.

Autorität im 21. Jahrhundert spricht in Floskeln, Hinweisen, Prozeduren. Sie schreit nicht. Sie bittet. Sie drängt höflich, aber bestimmt. Ihre Sätze sind modular, prüfbar, plausibel. Und gerade das macht sie so gefährlich: Sie erscheint vernünftig. Sachlich. Unaufdringlich. Doch unter der Oberfläche schimmert derselbe Imperativ wie eh und je: gehorche.

Ein Befehl braucht heute kein Ausrufezeichen mehr. Er kommt als „Empfehlung“ daher, als „Erfordernis“, als „Verpflichtung im Rahmen Ihrer Aufgabenbeschreibung“. In Verwaltungen spricht man von „vorgesehenen Abläufen“. In Unternehmen von „Richtlinien“. In der Politik von „Sachzwängen“. Die Sprache kennt die Richtung. Die Menschen folgen.

Die Kommunikationspsychologie nennt das „weiche Autorität“ (Klein, 2022). Sie wirkt nicht durch Einschüchterung, sondern durch Erwartungsmanagement. Sie fragt nicht: „Willst du?“ – sondern: „Du willst doch, oder?“ Sie gibt keine Anweisung – sie formt ein Setting, in dem Widerstand als irrational, störend, unprofessionell erscheint.

Und so funktioniert sie auch im berühmten Experiment von Götz, Mitschke und Eder (2023): Die Versuchsperson wird nicht gezwungen, einen Käfer zu töten. Sie wird gebeten. Der Versuchsleiter sagt: „Ich bin verantwortlich.“ Und: „Es wäre notwendig, dass Sie fortfahren.“ Keine Drohung. Kein Befehl. Und doch: 96 Prozent gehorchen. Warum?

Weil der Rahmen spricht. Weil die Rollen verteilt sind. Weil alles so aussieht, als sei es sinnvoll. Die Autorität delegiert das Warum – und konzentriert sich auf das Wie.

Diese neue Form der Befehlsausgabe ist besonders perfide, weil sie mit dem Selbstbild des mündigen Menschen kompatibel ist. Man fühlt sich nicht gedrängt. Man fühlt sich eingebunden. Als Teil eines größeren Zwecks, eines sinnvollen Prozesses, einer gemeinsamen Mission. Wer hier nicht mitmacht, ist nicht mutig, sondern illoyal. Nicht kritisch, sondern schwierig. Nicht moralisch, sondern unpraktisch.

In der Sprache liegt die neue Macht. Und in der Kunst, sie so zu benutzen, dass sie gar nicht wie Macht erscheint.

Früher musste man gehorchen, um zu überleben. Heute gehorcht man, um zu funktionieren. Oder einfach, um nicht unangenehm aufzufallen. Die neuen Befehle tarnen sich als Rücksichtnahme. Als Effizienzsteigerung. Als wissenschaftlicher Konsens. Als Notwendigkeit im Angesicht komplexer Sachverhalte.

Doch das Prinzip ist dasselbe geblieben: jemand bestimmt – und jemand führt aus. Nur dass heute keiner mehr „Befehl“ sagt. Und alle glauben, sie hätten selbst entschieden.

Was tun? Vielleicht genügt es schon, die Sprache zu stören. Ein „Warum?“ einzufügen, wo sonst geschwiegen wird. Ein „Nein“, wo ein „Na gut“ erwartet wird. Und die einfache Feststellung: „Das ist keine neutrale Information – das ist ein versteckter Auftrag.“

Der Gehorsam von heute trägt keinen Helm. Er trägt ein Headset. Und seine Befehle kommen ohne Ausrufezeichen. Aber sie gelten trotzdem.

Ein Käfer stirbt leise

Über ein Experiment und die Gesellschaft, die es möglich macht

„Das Tier ist der Anfang der Gewalt – aber nie ihr Urheber.“
– Jean Améry

Ein Glaskasten. Ein Käfer. Ein Mensch mit schlechtem Gewissen. Und ein Versuchsleiter, der freundlich sagt: „Bitte töten Sie das Tier.“

Es klingt absurd. Ist aber real. Das „object-destruction paradigm“, entwickelt von Götz, Mitschke und Eder (2023), ist ein psychologisches Experiment, das die Mechanismen des Gehorsams auf beunruhigend elegante Weise sichtbar macht. Die Aufgabe: Käfer in einem vermeintlichen Schredder zu vernichten – im Dienste der Wissenschaft. Das Ergebnis: Wer einen Befehl erhält, tötet fast immer. Wer frei entscheiden darf, zögert oder verweigert.

Was sagt das über uns aus? Zunächst: Dass der Gehorsam keine Uniform, keine Prügelstrafe, keinen Knall braucht. Es reicht ein System, das höflich fragt – und doch nicht nach einer echten Antwort sucht.

Der Käfer ist das Symbol. Er steht für alles, was unscheinbar ist, klein, verletzlich – und doch ein Opfer werden kann. Denn niemand wehrt sich in diesem Experiment. Niemand schreit. Niemand klagt an. Und gerade deshalb wird getötet. Der Tod erfolgt still. Wie so viele Gewalttaten in modernen Gesellschaften: ohne Schwert, ohne Pathos, ohne Hysterie. Nur mit einem Tastendruck.

Die Versuchspersonen spüren, dass etwas nicht stimmt. Ihre Haut reagiert messbar mit Stress (Götz et al., 2023). Ihre Aussagen deuten auf innere Konflikte. Doch sie tun es trotzdem. Weil jemand es gesagt hat. Weil es Teil des Versuchs ist. Weil es – und das ist der zentrale Punkt – scheinbar dazugehört.

Das ist das Erschreckende: Die moralische Ausnahme wird zur funktionalen Routine. Die eigene Grenze wird verschoben – nicht durch Zwang, sondern durch Einbettung.

Wir kennen diesen Mechanismus. Nicht nur aus Labors, sondern aus Fabriken, aus Büros, aus Verwaltungen. Dort tötet man keine Käfer, sondern Entscheidungen. Lebensverläufe. Zeit. Würde. Nicht mit Absicht – sondern im Auftrag. Die Entscheidung wird gefällt, weil das System es verlangt. Weil „es nicht anders geht“. Weil „alle anderen es auch tun“.

So entstehen die „kleinen Tode“ des Alltags: die Sanktion im Jobcenter. Die Wohnungskündigung auf Basis eines Paragraphen. Die Abschiebung „im Rahmen geltender Vorschriften“. Niemand will es so. Und doch tut es jeder – ein bisschen. Weil es Teil des Prozesses ist.

Das Käferexperiment ist keine Spielerei. Es ist ein Spiegel. Und es wirft die zentrale Frage auf: Was wäre, wenn nicht der Käfer, sondern ein Mensch im Schredder gesessen hätte? Was, wenn es nicht um Wissenschaft ginge, sondern um Krieg, Bürokratie, Unternehmensgewinn?

Die Antwort ist nicht beruhigend. Denn das Setting wäre dasselbe: ein legitimierter Auftrag, eine unsichtbare Verantwortungskette, ein stilles Einverständnis. Und am Ende ein Tastendruck. So wurden Lager verwaltet. So werden Drohnen gesteuert. So funktionieren Märkte.

Aber vielleicht kann man auch umkehren. Vielleicht ist der Moment, in dem jemand den Käfer nicht tötet, der Anfang einer Rebellion. Einer neuen Kultur der Aufmerksamkeit. Vielleicht braucht es gar keinen großen Widerstand. Nur die Weigerung, etwas zu tun, das sich falsch anfühlt – auch wenn es niemand verbietet.

Vielleicht ist es genau das, was Hannah Arendt meinte, als sie vom „Denken im Handeln“ sprach. Vielleicht beginnt alles mit einem „Nein“ – das leise gesagt wird. Aber laut wirkt.

Der Mensch als Funktionsstelle

Über die Bürokratie als Matrix moderner Gewalt

„In gut geölten Systemen knirscht das Gewissen am lautesten.“
– anonym, vermutlich aus der Registratur

Der Mensch ist ersetzbar. Das ist die stille Prämisse jeder Bürokratie. Und je besser das System funktioniert, desto weniger spielt es eine Rolle, wer darin wirkt – Hauptsache: Er oder sie funktioniert. So verwandelt sich der Mensch in eine Funktionsstelle. Eine Stelle, die zu besetzen ist. Nicht mit Haltung, sondern mit Kompetenz. Nicht mit Moral, sondern mit Verfügbarkeit.

Die Gewalt, die aus dieser Struktur entsteht, hat kein Gesicht. Sie wird verwaltet, terminiert, abgezeichnet, eingescannt. Niemand schreit. Niemand schlägt zu. Aber jemand wird ausradiert. Aus dem Register. Aus der Datenbank. Aus dem System.

Der Bürokrat, schrieb Hannah Arendt (1963), war das gefährlichste Subjekt des 20. Jahrhunderts. Nicht, weil er bösartig war, sondern weil er aufhörte zu denken. Weil er sich einrichtete im Gehorsam. Nicht in blindem Fanatismus, sondern in funktionaler Loyalität. Die „Banalität des Bösen“, wie Arendt es nannte, ist kein dämonisches Prinzip – sie ist ein Verwaltungsakt.

Man sehe sich heutige Behörden an: Die Bescheide, die Fristen, die Sanktionsmechanismen. Alles ist formal korrekt. Alles ist „gesetzlich gedeckt“. Und doch spürt man, dass hier etwas geschieht, das der Menschlichkeit hohnlacht. Das System fragt nicht: Was ist gerecht? Es fragt: Was ist geregelt?

Auch im „object-destruction paradigm“ von Götz et al. (2023) zeigt sich diese Logik: Die Versuchsperson soll einen Käfer töten – nicht aus Hass, sondern weil es vorgesehen ist. Die Verantwortung liegt beim Versuchsleiter. Der Zweck ist vorgegeben. Die Handlung ist klar umrissen. Wer gehorcht, gehorcht nicht dem Befehl – sondern der Struktur. Und wer leidet, leidet im Stillen.

Diese Versuchsanordnung ist kein Einzelfall. Sie ist die Blaupause unseres Alltags. Der Mensch am Schalter, der „nur durchreicht“. Die Polizistin, die „nur durchsetzt“. Der Callcenter-Mitarbeiter, der „nur eingibt“. Die Gewalt liegt nicht in der Absicht – sie liegt in der Form.

Man könnte nun sagen: So ist eben die moderne Gesellschaft. Komplex, arbeitsteilig, organisiert. Doch diese Feststellung ist selbst Teil des Problems. Denn sie enthebt von Verantwortung. Sie erzeugt jene „verteilte Schuld“, die niemand trägt – und alle vollstrecken.

Niklas Luhmann (1981) sprach von „Entscheidungen ohne Entscheider“. Das ist das Ideal moderner Organisation: Prozesse, die laufen, weil sie laufen. Menschen, die mitmachen, weil sie sonst stören. Und ein Ethos, das sagt: „Es geht nicht um dich – es geht um das Verfahren.“

Doch genau da beginnt die Kritik. Denn wer den Menschen zur Funktion erklärt, macht ihn unsichtbar. Und wer Verantwortung delegiert, macht sie bedeutungslos. Die Frage ist also nicht, wie gut ein System funktioniert – sondern wem es nützt, wen es verletzt, wen es zum Schweigen bringt.

Vielleicht muss man Systeme wieder stören lernen. Innehalten. Nachfragen. Widersprechen. Nicht aus Trotz, sondern aus Treue zur Menschlichkeit.

Vielleicht beginnt Gerechtigkeit genau dort, wo jemand sagt: „Ich bin mehr als meine Rolle.“ Und wo jemand anderem begegnet, nicht als Fall – sondern als Person.

Die Dressur der Demokratie

Über Sachzwang, Marktgehorsam und freiwillige Unterwerfung

„Was als Freiheit erscheint, ist oft nur die Wahl zwischen zwei Arten der Anpassung.“
– Erich Fried

Demokratie heißt: Das Volk entscheidet. Kapitalismus heißt: Der Markt entscheidet. Und zwischen diesen beiden Versprechen klemmt die Wirklichkeit. Sie klemmt so fest, dass sich das eine Prinzip nur noch in den Spielräumen des anderen entfalten darf. Und diese Spielräume werden enger.

Was wir heute als Demokratie bezeichnen, ist oft ein Dressurakt: ein gut trainierter Gehorsam gegenüber Sachzwängen. Man darf wählen, ja – aber nur zwischen Optionen, die „marktkonform“ sind. Man darf demonstrieren – solange der Verkehr nicht beeinträchtigt wird. Man darf kritisieren – solange die Kritik ins Format passt. So hat sich die Freiheit an die Leine nehmen lassen, und nennt es Kompromiss.

Wolfgang Streeck (2013) spricht vom „Ende des demokratischen Kapitalismus“. Er meint damit nicht den Staatsstreich, sondern das langsame, systematische Abtrainieren demokratischer Ansprüche. Wer heute etwas will – ob Löhne, Pflege, Klima, Wohnungen –, hört als Antwort nicht „nein“, sondern „nicht finanzierbar“. Und „nicht wettbewerbsfähig“. Und „nicht durchsetzbar auf den Märkten“.

Das ist die Sprache der Dressur: Der Mensch soll nicht widerständig sein, sondern vernünftig. Nicht kämpferisch, sondern kooperativ. Er soll sich fügen, freiwillig – und stolz darauf sein, dass er sich angepasst hat. Der gute Bürger wird zum wirtschaftlich folgsamen Subjekt. Und wer nicht funktioniert, wird „resozialisiert“ – oder „abgehängt“.

Dieser Prozess wirkt auch in den kleinsten Lebensbereichen. Der junge Mensch, der einen befristeten Job annimmt, obwohl er sich ausbeutet. Die Erzieherin, die sich ihre Fürsorge abtrainieren muss, weil die Quote stimmt. Der Rentner, der schweigt, weil sein Kredit sonst nicht bewilligt wird.

Niemand zwingt diese Menschen. Niemand hält eine Pistole an die Schläfe. Aber alle folgen einer Logik, die sich als Notwendigkeit ausgibt. Es ist die Gewalt der Alternativlosigkeit. Die Diktatur des Faktischen. Und sie wirkt, weil sie als Naturgesetz erscheint.

Man darf hier nicht nur an Regierungen oder Banken denken. Der Gehorsam, von dem die Rede ist, ist ein verinnerlichter. Ein stiller Imperativ: Du musst mithalten. Du musst rentabel sein. Du musst funktionieren.

Nancy Fraser (2014) nennt das die „versteckte Reproduktion“ kapitalistischer Macht: Die Menschen ordnen sich unter, nicht weil sie müssen – sondern weil sie glauben, dass es richtig ist. Das ist die höchste Form der Dressur: wenn das Tier den Käfig verteidigt, weil es sich sicher fühlt.

Was also tun? Vielleicht hilft eine Rückbesinnung auf das Unbequeme. Auf das Unwirtschaftliche. Auf das Menschliche. Eine Demokratie, die diesen Namen verdient, muss nicht effizient sein – sondern gerecht. Nicht wettbewerbsfähig – sondern solidarisch. Und nicht konfliktvermeidend – sondern konfliktfähig.

Widerstand gegen den Dressurakt beginnt mit einer Frage: Wem nützt dieser Zwang? Und wem schadet er? Wer das fragt, wird unbequem. Und wer unbequem wird, ist vielleicht der Anfang einer neuen Freiheit – einer, die sich nicht dressieren lässt.

Ausbruch aus der Folgsamkeit

Über das Wagnis, Nein zu sagen – und wie Widerstand praktisch werden kann

„Der Gehorsam ist das Grundübel der Welt. Nicht der Ungehorsam.“
– Erich Mühsam

Es beginnt selten mit einem Donnerschlag. Eher mit einem Räuspern. Einem Zögern. Einem Satz, der querliegt: „Ich mache das nicht.“ So klang es vielleicht, als sich Rosa Parks weigerte, aufzustehen. So klang es, als Edward Snowden seinen Arbeitgeber hinterfragte. So klingt es, wenn ein Mensch Nein sagt – nicht aus Trotz, sondern aus Klarheit.

Die Folgsamkeit ist leise. Ihr Ausbruch auch. Und doch hat dieses Nein mehr Sprengkraft als jedes Manifest. Denn es rüttelt nicht nur an Regeln, sondern an der Angst, die sie schützt.

Viele sagen: Was bringt es denn, sich zu widersetzen? Man sei doch ersetzbar. Man habe doch keine Macht. Die Maschine laufe ohnehin weiter. Und ja, das tut sie. Aber sie läuft anders, wenn Sand in den Lagern knirscht. Wenn Menschen nicht mehr reibungslos mitmachen. Wenn sie nicht mehr funktionieren wollen.

Widerstand beginnt nicht mit Heldentum. Er beginnt mit Irritation. Mit der Weigerung, das Unrichtige als Normalität zu akzeptieren. Mit dem Wissen: Man muss nicht alles mittragen, was einem vorgelegt wird. Man kann auch sagen: Ich bin nicht Teil dieses Spiels.

In der Studie von Götz, Mitschke und Eder (2023) gab es sie – die wenigen, die nicht gehorchten. Die sagten: Nein, ich töte das Tier nicht. Sie taten das nicht aus Kalkül, sondern aus Gefühl. Aus dem Widerhall eines inneren Maßstabs, der stärker war als der soziale Druck.

Diese Menschen sind keine Ausnahme – sie sind Erinnerung daran, dass Moral kein Luxus ist. Und dass der Mensch, bei aller Dressur, seine Urteilskraft nicht ganz verliert. Er kann sie wiederentdecken. Im Gespräch. Im Zweifel. Im Nein.

Doch Nein sagen reicht nicht. Wer Nein sagt, braucht auch ein Wohin. Eine Praxis, die mehr ist als Verweigerung. Die Alternativen schafft. Räume. Beziehungen. Organisationen. Jedes genossenschaftlich geführte Café, jede basisdemokratische Versammlung, jede solidarische Initiative ist ein kleines Labor für eine andere Welt.

Der Ausbruch aus der Folgsamkeit braucht also nicht nur Mut – er braucht auch Phantasie. Eine Vorstellung davon, wie Gesellschaft ohne Gehorsam aussehen kann. Eine Gesellschaft, in der Verantwortung nicht abgeschoben, sondern geteilt wird. In der Regeln nicht blind befolgt, sondern gemeinsam verhandelt werden.

Vielleicht ist das Nein die einzige radikale Geste, die uns geblieben ist. Aber sie genügt nicht, wenn sie nicht weiterführt. Darum braucht es ein Ja – zu einem Leben, das mehr will als Mitlaufen. Das denkt. Und fühlt. Und handelt.

Der Mensch muss nicht gehorchen, um gut zu sein. Im Gegenteil: Vielleicht beginnt seine Würde genau dort, wo er sich weigert.


Epilog

Sechs Essays, ein Thema. Und eine Erkenntnis: Der Gehorsam ist keine Nebensache. Er ist das Rückgrat jeder Ordnung – und das Einfallstor jeder Unmenschlichkeit. Wer die Gewalt verstehen will, muss den Gehorsam verstehen. Und wer ihn überwinden will, muss lernen, ungehorsam zu sein – nicht aus Eitelkeit, sondern aus Verantwortung.

About the author

Holger Elias

Studien der Journalistik und Kommunikations-Psychologie. War beruflich als Korrespondent und Redakteur bei Nachrichtenagenturen (reuters, cna usw.), für überregionale Tageszeitungen sowie für Rundfunk und Fernsehen tätig. Lebte und arbeitete knapp acht Jahre als EU-Korrespondent in Brüssel. Als Verleger und Publizist gab er knapp 140 Buchtitel heraus.

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