Wer heute noch an die beruhigende Idee kohärenter »Westpolitik« glaubt, bekommt in diesem Gespräch zwischen Zain Raza (acTVism Munich, 14.09.25) und dem Historiker Peter Kuznick eine kalte Dusche. Der Professor der American University argumentiert – kantig, überspitzt, aber mit klarem rotem Faden – dass Washington und seine engsten Verbündeten zwischen Diplomatie-Rhetorik und Kriegsrealität taumeln. Drei Felder stehen im Zentrum: der Mord an Charlie Kirk als Symptom einer verrohten politischen Kultur, Israels Luftschläge bis nach Doha als Ausdruck eines außer Kontrolle geratenen Regionalakteurs – und die Ukraine als Kulisse einer widersprüchlichen US- und EU-Strategie.
Charlie Kirk und die Normalisierung der Gewalt
Kuznick beginnt dort, wo die liberale Öffentlichkeit häufig wegschaut: beim Spektrum legitimer Kontroverse. Er macht klar, dass er »mit Charlie Kirk in keiner einzigen Angelegenheit übereinstimme«, aber: »Niemand verdient es, getötet zu werden.« Politische Gewalt sei »unter keinen Umständen zu tolerieren«. Punkt. Dass Teile der US-Linken mit Häme reagierten, kritisiert er ebenso wie die Rechte, die das Ereignis zur Eskalationsspirale stilisiert. In einer für US-Universitäten seltenen Volte sagt Kuznick, er ermutige konservative Studierende ausdrücklich, in seinen Kursen zu sprechen – und schütze sie notfalls vor »liberalen« Kommiliton:innen: Debatte statt »Schutzräume« (safe spaces).
Gleichzeitig verortet er die größere Gefahr klar rechts: »95 % der politischen Gewalt in den USA wird nicht von der Linken ausgeübt.« Als Katalysator sieht er Donald Trump, der »Randalierer vom 6. Januar« begnadigt und eine Atmosphäre schaffe, in der Militärpräsenz im Innern normalisiert werde. Für Kuznick ist das »der Anfang einer faschistischen Machtübernahme«. Man muss diese Diagnose nicht teilen, um den Kern zu erkennen: Wer Gewalt relativiert, verliert die Politik.
Doha als Dammbruch – Israels Militärpolitik und der Westen
Der zweite Block trifft das Nervenzentrum der Gegenwart: Israels Luftangriffe im Jemen, im Gazastreifen – und eben in Doha, Katar. Laut Kuznick fand der Schlag gegen ein Hamas-Treffen statt, obwohl »Israel garantiert habe, Katar nicht anzugreifen« – und obwohl die USA zugesichert hätten, Katar sei sicher. Der Angriff zerstöre »den Friedensprozess, soweit er vorangeschritten war«. Der katarische Premier werde mit Worten zitiert, die nichts beschönigen: »Staatsterror«. Kuznicks Pointe: Wer das Versprechen diplomatischer Räume aushebelt, kastriert Diplomatie als solche.
Daran hängt er eine größere These: Israel habe »fünf Hauptstädte in der Region bombardiert« und benehme sich »als Schurkenstaat«. Dass Washington das ermögliche, konterkariere jede Selbsterzählung als Friedensmacht. Hier wird Kuznick polemisch: Trump, der »den Friedensnobelpreis« wolle, verdiene eher »einen Platz in Den Haag«. In deutschem Kontext setzt er noch einen drauf: Friedrich Merz sei »der schlimmste deutsche Politiker seit dem Zweiten Weltkrieg«, militaristisch und ökonomisch destruktiv. Man kann diese Breitseite als Überzeichnung abtun; analytisch wichtiger ist der Befund dahinter: Die EU ringt, Deutschland blockiert – und genau diese Zerrissenheit lässt restriktivere Maßnahmen gegenüber Israel versanden.
Kuznicks moralischer Rahmen ist eindeutig: Das, was Israel in Gaza tue, sei »Völkermord«, die Hungersnot »Politik der Aushungerung«. Historisch begründet er das nicht aus Anti-Israel-Reflex, sondern biografisch – mit der Ermordung von Angehörigen im Holocaust. Gerade deshalb fordert er »ein Gefühl für moralische Unterschiede«: Schuldgeschichte kann kein Freibrief für Gegenwartsverbrechen sein. Für die diplomatische Tektonik bedeutet der Doha-Schlag: Er gefährdet US-Beziehungen zu Golfstaaten, die Katar-Souveränität ernst nehmen – und sendet ein Signal der Eskalationsbereitschaft Richtung Iran.
Ukraine: Provozierte Katastrophe, eingefrorene Vernunft
Im dritten Themenfeld verlässt Kuznick das engste Nachrichtenband und legt eine konflikttheoretische Lesart vor. Zwei Sätze strukturieren alles: »Russland hätte niemals einmarschieren dürfen« – und: »Der Krieg wurde in hohem Maße provoziert.« Letzteres verankert er in der langen Debatte über NATO-Erweiterung, Warnungen von Kennan bis Nitze, den Bruch 2014 und die interne Radikalisierung in Moskau wie Kiew. Das Ergebnis: eine Eskalation, die jede Woche gefährlicher werde, zuletzt illustriert durch russische Drohnen über Polen und veränderte Nukleardoktrinen.
Sein politischer Schluss ist so simpel wie unpopulär: Ohne territoriale Zugeständnisse werde es keinen Frieden geben. Wer in Kiew »keine Zugeständnisse« zur Maxime erkläre, sperre sich gegen Realität – und verlängere das Sterben. Dass Washington zwischen Gesprächen und Waffenpaketen pendelt, während Europa rhetorisch aufrüstet, aber Sicherheitsgarantien scheut, nennt Kuznick die doppelte Unaufrichtigkeit der Gegenwart. Er fordert daher eine internationale Friedenstruppe jenseits von NATO und Russland – mit einem starken Anteil aus China und Indien. Realpolitik, nicht Romantik.
Zwischen Diagnose und Deutung: Wo Kuznick trifft – und wo er greift
Was bleibt von diesem Gespräch, jenseits der Überhitzung? Erstens: Die Verteidigung der Debatte gegen die Logik der Gewalt ist Kuznicks stärkster Moment. Dass er linke Häme zurückweist und gleichzeitig rechte Gewalt benennt, entzieht parteilichem Reflex den Boden. Zweitens: Doha ist eine Zäsur. Wer Verhandlungstische bombardiert, erklärt Verhandlungen zum Feigenblatt. Dass der UN-Sicherheitsrat den Schlag verurteilt – selbst mit US-Zustimmung – unterstreicht die Brisanz; zugleich zeigt der EU-Streit, wie wenig strategische Konsequenz daraus folgt. Drittens: In der Ukraine-Frage zwingt Kuznick dazu, zwei Wahrheiten gleichzeitig zu halten – russische Aggression und westliche Provokationsgeschichte. Das ist unbequem, aber nötig.
Wo schießt er übers Ziel hinaus? Seine Generalabrechnung mit Merz als »schlimmstem Politiker seit 1945« fällt in die Rubrik Talkshow-Fallbeil. Sie lenkt von der eigentlich interessanten Frage ab, warum die deutsche Politik strukturell zwischen »Staatsräson Israel« und Völkerrechtsbindung stranguliert. Auch die Zuschreibung »Schurkenstaat« für Israel ist analytisch schwach, weil sie den systemischen Charakter (Koalitionslogik, innenpolitische Justizflucht Netanyahus, Ökonomie des Siedlungsprojekts) moralisch auf einen Nenner bringt und damit Erklärungskapazität verschenkt. Wer überzeugen will, sollte institutionell nachweisen, nicht nur etikettieren.
Und dennoch: Das Gespräch markiert eine wichtige gedankliche Schneise. Es holt die verdrängte Frage zurück, ob westliche Politik derzeit mehr mit Image-Management als mit Konfliktlösung beschäftigt ist. Doha als Dammbruch, die Ukraine als Falle aus Maximalansprüchen und Machtarithmetik – beides verweist auf dasselbe Problem: Wir haben die politischen Instrumente zur Deeskalation kaum noch in Gebrauch. Sanktionen werden zum Ersatzdiskurs, Rüstung zum Ersatzargument, »Zeitenwende« zur semantischen Beruhigungstablette.
Was tun? Drei unpopuläre Konsequenzen
Erstens: Wer Diplomatie will, muss Räume schützen. Das heißt im Nahen Osten: keine luftkriegsgetriebene Verhandlungspolitik, sondern überprüfbare Sicherheitsgarantien für Vermittlerstaaten – und eine EU-Linie, die diesen Schutz mit spürbaren Hebeln verknüpft. Zweitens: In der Ukraine bedeutet Ehrlichkeit, über Territorium, Minderheitenschutz und Sicherheitsarchitektur parallel zu reden – und zwar mit Akteuren, die nicht NATO heißen. Drittens: Innenpolitisch (USA wie EU) braucht es eine Rückgewinnung des Politischen gegen die Sogkraft des Ausnahmezustands. Wer Militär normalisiert, »normalisiert« am Ende auch die Sinnlosigkeit.
Kuznick liefert dafür keine Blaupause, aber eine Provokation, die sitzt. Er verteidigt die Debatte gegen die Verrohung, prangert Doppelmoral an und zwingt zu Entscheidungen, die niemand mag. Genau deshalb lohnt das Anhören.
Das Interview »Israels Angriff in Katar, Charlie Kirk & Ukraine – Der versteckte Kontext | Prof. Kuznick« erschien bei acTVism Munich am 14.09.25.