Brave1 verknüpft Venture-Kapital mit Kampfdaten: KI-Rüstungsschleifen füttern sich mit Echtzeit-Telemetrie aus dem Donbass und das Schlachtfeld wird zur realen Teststrecke für digitale Waffenprototypen.
Die Nachricht ging im Saal des Wiesbadener LANDEURO-Kongresses unter wie ein Sektkorken im Maschinengewehrfeuer: Mychajlo Fedorow, Kiews Digitalminister in Camouflage-Sneakern, lud die versammelten Rüstungsvertreter ein, ihre Prototypen »dort zu testen, wo jede PowerPoint zur Zielscheibe wird« – auf den Schützengräben des Donbass. Die Ukraine, klopfte er sich an die Brust, sei »das dynamischste Labor der Welt«. Noch ehe der Applaus verklungen war, ging die Plattform Test in Ukraine online. Sie verspricht Ingenieuren das, wovon Venture-Kapitalisten nur träumen: einen A/B-Split mit scharfer Munition und Sofort-Feedback von Soldaten, die nicht nach Tages-Spesen, sondern nach Überlebenschancen fragen.

Seither ist der Krieg auf eigenartige Weise zweigeteilt: vorn lodern Einschläge, hinten leuchtet eine Start-up-Ästhetik aus Corporate-Violett und kugelsicheren Hoodies. Die Website zählt UAVs, Seedrohnen, Laser und »AI/ML« zu ihren Lieblings-Spielarten, dazu handverlesene Testszenarien: Test together oder Leave it to us, ganz wie beim Versand einer Bettmatratze zum Probeliegen. Der Import-Leitfaden liefert Excel-kompatible Checklisten, empfiehlt dem Hersteller ein End-User-Certificate und erläutert, wie mit zerborstenen Geräten zu verfahren sei – entweder spenden oder zurücknehmen. Die Grenze zwischen Feldforschung und Feldhaubitze verflüssigt sich in Paragrafenprosa.
Währenddessen schiebt Kabinettsbeschluss 1378 ganze Güterklassen aus dem Exportkontrollregime: Tarnlack, Drohnentriebwerke, Laserzielgeräte – »nicht genehmigungspflichtig bei temporärem Import unter Kriegsrecht«. In der Weimarer Republik nannte man solche Manöver »Auslagerung ins Aus-Land«; damals übte die Reichswehr kollektives Blindfliegen in sowjetischen Flugschulen, um Versailles zu unterlaufen. Heute tuckern die Drohnen zwar gen Osten, doch der juristische Loop-Hole bleibt verwandt: Man sucht die Lücke im Regelwerk – und füllt sie mit Sprengstoff.
Die ökonomische Grammatik dahinter offenbart ein Paradox, das Adorno bereits am fabrikfertigen Jazz notierte: Innovation wird zur Ware, indem sie sich selbst vernichtet. Jener Splitter eines Glasfaser-FPV-Drohnenkörpers, der heute im russischen Graben landet, ist morgen als Version 2.0 schon wieder veraltet. Business Insider zitiert einen britischen Waffenhändler: »Wer seine Drohne nicht täglich in der Ukraine fliegt, kann das Modell einstampfen.« Die Front wird zur algorithmischen Schleife aus Versuch, Scheitern, Nachbessern – Fail Fast mit Explosionsradius.
Dass der Staat dabei als Risikokapitalgeber einspringt, belegt eine CSIS-Analyse: 1,4 Milliarden US-Dollar allein 2024 für UAV-Beschaffung, flankiert von 36 Millionen für Brave1. Ukrainische Start-ups, die bis gestern noch Agrardrohnen düngten, stapeln nun Sprengköpfe. Man könnte das als heroische Mobilmachung preisen – oder als Acceleratoren-Logik, die Blut und Daten zugleich monetarisiert. Je dichter der Sensor-Raum, desto wertvoller das Data-Lake, den NATO-Partner in ihre KI-Pipelines pumpen.
Die moralische Verdrehung zeigt sich schon im Vokabular: Aus »Soldat« wird »End User«, aus »Verlust« wird »Real-World Validation«. Reuters berichtet sachlich, das Programm verlange vom Lieferanten nur noch ein Online-Training; den Rest erledige die Front. Henry Ford hätte seine Fließbänder nicht effizienter takten können. Doch wo bleibt die Geländekammer für das humanitäre Völkerrecht? Das UNIDIR-Papier zu autonomen Waffensystemen erinnert daran, dass jeder Prototyp vor Einsatz eine Artikel-36-Prüfung durchlaufen müsse – eine Pflicht, die in einer 48-Stunden-Iterationsschleife kaum mehr als Fußnote wirkt.
Historische Déjà-vus drängen sich auf. Im Spanischen Bürgerkrieg schleifte die Legion Condor Guernica zu Testzwecken; der Vietnamkrieg wurde zur Werbebroschüre für Helikopter und Napalm. Nun fahren Entwickler mit Go-Pro-Helm ans »Innovation Valley« Bachmut, als sei es das nächste Burning Man. Chomsky warnte einst vor der »normalization of the unthinkable«. Heute wird das Undenkbare patentiert.
Gleichzeitig lockt ein gesellschaftlicher Bonus: Politische Verantwortung lässt sich outsourcen. Wenn ein NATO-Mitglied ein halbautonomes Raketensystem riskieren will, kann es dies stillschweigend nach Kiew schicken – und im heimischen Parlament behaupten, man teste nur in silico. Moral Hazard in Reinkultur. Die T-Online-Recherche konstatiert trocken, Kiew ermögliche »Forschung und Entwicklung auf dem Schlachtfeld«. Die Pointe: Sollte der Versuch tödlich scheitern, haftet zunächst niemand – denn welche Gerichtsmedizin katalogisiert schon Trümmerteile eines Beta-Release?
Doch auch Kiew bezahlt einen Preis. Brave1 rühmt sich von über 2 000 US-Militärs, die sich in Wiesbaden drängelten, um ihr Stück Echtzeit-Learnings zu sichern. Wer allerdings die zivile Gedächtnisarbeit leistet, wenn in Kharkiw ein Laser-Abwehrsystem versagt, bleibt offen. NGOs mahnen Transparenz an, verhallen aber hinter dem Donner narrative Frames: David gegen Goliath, Freiheit gegen Despotie. Kritik daran riecht sofort nach Defätismus.
In den Talkshows westlicher Hauptstädte, so scheint es, haben sich zwei Pole herausgebildet: die Ingenieurs-Euphorie (»Endlich reale Daten!«) und die Moralpauke (»Alles für die gute Sache!«). Beides verkennt die strukturelle Schieflage. Nancy Fraser beschrieb Kapitalismus als »institucionalisierte soziale Ungerechtigkeit« – hier wird die Ungerechtigkeit mit dem Siegel »Notwehr« veredelt. Wer fragt, ob nicht gerade die »gute Sache« ein hedged Bet für Silicon-Valley-Portfolios darstellt, gilt als Querfront-Gefahr.
Unterdessen wächst die Schwarzmarkt-Peripherie. Die offene Liste der spanplattenbraunen Container verrät, dass auch Cyber-Offensiv-Software mit an Bord sein darf, sofern sie dem Artikel ML21 entspricht. In Odessa munkeln Broker von »near-fail-samples«, die nach einem Kurz-Einsatz rückgeführt und über Drittfirmen nach Asien gewandert seien. 1920 machten Krupp und Skoda ähnliche Geschäfte – doch damals kosteten Vertriebsreisen noch Schiffspassagen, heute genügt ein VPN-Tunnel.
Was bedeutet dies für jene »regelbasierte Ordnung«, auf die westliche Demokratien stolz verweisen? Wenn Kriegs-Usability zur letzten Instanz technischer Zertifizierung avanciert, droht das IHL zum Appendix eines Crowdfunding-Decks zu schrumpfen. Die UN-GGE ringt um Definitionen, während am Dnipro längst semi-autonome Seedrohnen patrouillieren. Jener »Moment McCarthy«, den Hannah Arendt als Angst vor loyalitätsfreien Technologien deutete, kehrt zurück – diesmal in Gestalt eines glitternden Dashboards.
Gewiss: Die Ukraine verteidigt ihr Existenzrecht und niemand darf ihr das absprechen. Dennoch entbindet selbst Notwehr nicht von der Pflicht, humane Kategorien zu bewahren. In Minima Moralia notiert Adorno: »Das Leben lebt nicht.« Man könnte ergänzen: Die Innovation innoviert nicht, wenn sie Menschenleben als A/B-Test subsumiert. Das Programm Test in Ukraine mag der strategischen Logik entsprechen; es bricht aber eine Bresche in jene kulturelle Selbstdistanz, die nach 1945 als Minimalnorm galt.
Vielleicht wird man später sagen, dies sei der Augenblick gewesen, in dem der Krieg vollends zum Plattform-Kapital gerann. Vielleicht wird man die Rauchschwaden von Pokrowsk einst wie Datenwolken deuten, in denen Patente ausgebrütet wurden. Vielleicht wird man aber auch erkennen, dass jeder Drohnentest ein soziales Experiment ohne Einverständniserklärung bleibt – und dass eine Moderne, die sowas duldet, ihre aufgeklärte Maske verliert.
Noch ist Zeit, die Versuchsanordnung zu stoppen, bevor sie zur Norm erstarrt. Solange Soldaten nicht »User Stories« heißen und Zivilisten nicht »Collateral Analytics«, solange ironische Sprache den Schmerz noch bloßstellen kann, besteht Hoffnung auf ein anderes Maß. Adornos melancholischer Imperativ – »Es gibt kein richtiges Leben im falschen« – wirkt in Kiew, Wiesbaden, Palo Alto zugleich. Ihn zu missachten hieße, Innovation mit Erlösung zu verwechseln. Das aber wäre die wohl tödlichste Waffe, die in diesem Labor je erfunden wurde.
Quellennachweis
- Ukraine bietet Front als Testgebiet für Rüstungsfirmen an. T-Online, 18. Juli 2025.
- Yana Prots: Ukraine invites foreign defense companies to test weapons on the battlefield. Kyiv Independent, 17. Juli 2025.
- Sabine Siebold: Ukraine offers its front line as test bed for foreign weapons. Reuters, 17. Juli 2025.
- Matthew Loh: Western arms makers can now live-test their prototype weapons on the battlefield against Russia’s forces. Business Insider, 18. Juli 2025.
- Manual for Manufacturers on How to Arrange the Import and Export of Their Goods to Ukraine for Testing Purposes. Brave1/Ministry of Digital Transformation, Version 10.07.2025.