Erich Mühsam, der anarchistische Schriftsteller und Gesellschaftskritiker, hat in seinem Essay “Humbug der Wahlen” eine grundlegende Kritik am parlamentarischen System formuliert. Seine Überlegungen erscheinen angesichts der Landtagswahlen in Thüringen am 1. September von besonderer Relevanz. Mühsams zentrale These, dass Wahlen im kapitalistischen System keine echte Veränderung bringen können, wirft einen kritischen Schatten auf die bevorstehenden Wahlen. Lassen sich seine Gedanken auf die aktuelle politische Landschaft anwenden? Was können wir von Mühsam lernen?
Die Wahl zwischen Pest und Cholera
Mühsam beschreibt in seinem Text die Wahl zwischen zwei Übeln – zwischen “Pest und Cholera”. Diese Metapher ist besonders treffend im Kontext der thüringischen Landtagswahlen, wo viele Wähler sich zwischen extremen politischen Positionen hin- und hergerissen fühlen. Die politische Landschaft in Thüringen ist polarisiert: Auf der einen Seite steht die AfD, die mit ihrer rechtsextremen Rhetorik immer mehr Anhänger gewinnt; auf der anderen Seite versuchen die traditionellen Parteien, ihre schrumpfenden Wählerschaften zu mobilisieren.
Der Eindruck, dass es keine echte Alternative gibt, entspricht genau dem, was Mühsam als “Humbug der Wahlen” bezeichnet. Wahlen suggerieren, dass die Bürger eine echte Wahl haben und dass jede Stimme zählt. Doch in Wahrheit, so Mühsam, bleibt das grundlegende System unverändert. Die Parteien, die sich im Parlament abwechseln, unterscheiden sich kaum in ihrer Unterstützung des bestehenden Systems, das die Macht in den Händen weniger konzentriert.
Mühsams radikale Kritik
Mühsam kritisiert nicht nur die Wahlen selbst, sondern auch die Parteien, die sich daran beteiligen. Er sieht in ihnen keine wirklichen Vertreter des Volkes, sondern Opportunisten, die das System nutzen, um ihre eigenen Machtpositionen zu sichern. Dies zeigt sich deutlich in seiner Beschreibung der Sozialdemokraten, die trotz ihrer revolutionären Rhetorik nichts grundlegend verändern konnten. Die Teilnahme am Parlamentarismus führt laut Mühsam nicht zur Emanzipation der Arbeiterklasse, sondern zur Anpassung an das bestehende System.
Diese Kritik trifft auch auf die aktuellen politischen Parteien in Thüringen zu. Die Linke, die sich traditionell als Stimme der Arbeiter und sozial Benachteiligten versteht, hat in der Regierungsverantwortung kaum revolutionäre Veränderungen herbeigeführt. Die Grünen, einst eine Partei des ökologischen und sozialen Wandels, haben sich in vielen Bereichen dem neoliberalen Konsens angepasst. Und die SPD, einst die Partei der Arbeiterbewegung, kämpft darum, ihre Basis überhaupt zu mobilisieren.
Die Illusion der Wahlfreiheit
Mühsam entlarvt die Wahlfreiheit als Illusion. Das Wahlrecht, so argumentiert er, sei das einzige Recht, das dem deutschen Mann zugebilligt wird, doch es ändere nichts an seiner grundlegenden Machtlosigkeit. Dies gilt auch für die Wähler in Thüringen. Die Wahlkampfparolen und die politischen Programme der Parteien mögen unterschiedlich klingen, doch sie bleiben im Rahmen des bestehenden Systems, das auf kapitalistischer Ausbeutung und sozialer Ungleichheit beruht.
Die Landtagswahlen in Thüringen sind somit ein Spiegelbild der von Mühsam beschriebenen Situation. Die Wähler haben das Gefühl, zwischen verschiedenen Übeln wählen zu müssen, ohne dass eine der Optionen eine echte Verbesserung ihrer Lebensbedingungen verspricht. Die wachsende Unterstützung für die AfD ist dabei nicht nur Ausdruck eines Rechtsrucks, sondern auch eines tiefen Misstrauens gegenüber den etablierten Parteien und dem politischen System insgesamt.
Die Lehren aus Mühsams Kritik
Was können wir also von Mühsam lernen? Seine Kritik bietet mehrere wichtige Einsichten:
- Systemkritik statt Parteienpolitik: Mühsam zeigt, dass echte Veränderung nicht durch die Wahl einer anderen Partei, sondern durch die grundsätzliche Infragestellung des Systems erreicht werden kann. Dies bedeutet, dass die politische Arbeit sich nicht nur auf Wahlen und parlamentarische Prozesse konzentrieren sollte, sondern auch auf außerparlamentarische Bewegungen und direkte Aktionen.
- Bewusstsein für Machtstrukturen: Mühsam verdeutlicht, dass Macht nicht nur durch politische Ämter, sondern auch durch ökonomische und soziale Strukturen ausgeübt wird. Eine echte demokratische Gesellschaft erfordert daher nicht nur politische Reformen, sondern auch eine Umverteilung von Macht und Ressourcen.
- Bedeutung der Basisarbeit: Anstatt auf die Versprechungen der Politiker zu vertrauen, sollten sich die Menschen selbst organisieren und ihre Interessen direkt vertreten. Dies kann durch Genossenschaften, lokale Initiativen und selbstverwaltete Projekte geschehen, die eine Alternative zum bestehenden System bieten.
Schlussgedanken
Erich Mühsams “Humbug der Wahlen” ist ein aufrüttelnder Text, der die Illusionen des parlamentarischen Systems entlarvt. Angesichts der Landtagswahlen in Thüringen erinnert er uns daran, dass echte Veränderung nicht durch die Wahl zwischen “Pest und Cholera” erreicht wird, sondern durch die radikale Infragestellung und Umgestaltung des gesamten Systems. Für ein politisch interessiertes Publikum bietet Mühsams Kritik eine wertvolle Perspektive, um die Grenzen des parlamentarischen Systems zu erkennen und nach neuen Wegen der politischen Partizipation und sozialen Transformation zu suchen.