China und Marx: Profit und Zukunft

C

Der Kapitalismus, so notierte Karl Marx im ersten Band des Kapital, habe »einen Horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere«. Wenn Tumult und Streit Profit brächten, so werde er sie ermutigen. Schmuggel und Sklavenhandel galten Marx als »Beweis«. Wer diesen Satz heute liest, der mag den Kopf schütteln über die Hellsichtigkeit eines Mannes, der vor über 150 Jahren schrieb – und zugleich erschauern angesichts der Aktualität. Denn die Gegenwart bestätigt, was Marx als Mechanismus beschrieb: Die Logik des Kapitals kennt keine Grenze außer der Aussicht auf Verlust.

Der Westen, der sich nach 1990 zum Triumphator erklärte, führte den Kapitalismus in die Phase fast vollständiger Narrenfreiheit. Deregulierte Finanzmärkte, globalisierte Produktionsketten, privatisierte Daseinsvorsorge, wachsende Ungleichheit, eine ökologische Katastrophe von planetarischem Ausmaß – all dies folgte aus der Illusion, dass »There Is No Alternative« (Thatcher). Colin Crouch sprach von einer »Postdemokratie«, in der die demokratischen Institutionen zwar weiter bestehen, aber der Inhalt längst von ökonomischen Eliten bestimmt wird. Nancy Fraser wiederum nannte das Bündnis aus neoliberaler Wirtschaftspolitik und liberaler Kulturpolitik den »progressiven Neoliberalismus« – eine Formation, die soziale Erosion unter dem Mantel moralischer Fortschrittsrhetorik kaschiert.

Russland ging den anderen Weg: Dort brach nach dem Zerfall der Sowjetunion ein oligarchischer Rohstoffkapitalismus hervor, der Reichtum in die Hände weniger konzentrierte und schließlich unter Putin in eine autoritäre Kriegsökonomie mündete. Auch hier gilt Marx’ Satz: 300 Prozent Profit, und kein Verbrechen wird gescheut – nicht einmal das Verbrechen gegen die eigene Bevölkerung.

China aber? Hier schob sich ein drittes Modell in die Weltgeschichte. Deng Xiaoping erlaubte den Markt, aber nur unter Vorbehalt: »Es ist egal, ob die Katze schwarz oder weiß ist, solange sie Mäuse fängt.« Mit diesem Satz begann ein Experiment, das bis heute die Welt fasziniert – und verunsichert. Denn die KPCh definiert den Markt nicht als Prinzip, sondern als Werkzeug. Sie beansprucht das Primat über ökonomische Dynamik, erlaubt Kapitalismus, aber nur, solange er das Machtmonopol stärkt.

So entstand ein Hybridsystem: kapitalistische Effizienz bei kommunistischem Machtanspruch. Wolfgang Streeck beschrieb diese Konstellation als »systemische Labilität«: Staaten, die den Kapitalismus lenken wollen, müssen zugleich seine Dynamik zulassen – und riskieren, von ihr überwältigt zu werden. Genau dies ist das chinesische Paradox.

Die Bruchlinien – Widersprüche eines Hybridsystems

1. Soziale Ungleichheit
China hat über 800 Millionen Menschen aus der absoluten Armut geholt. Das ist, nüchtern betrachtet, die größte Armutsreduktion der Menschheitsgeschichte. Doch zugleich ist eine neue Kapitalistenklasse entstanden, deren Reichtum nicht aus sozialistischen Prinzipien, sondern aus der Kontrolle über Vermögenswerte stammt. Thomas Piketty beziffert den chinesischen Gini-Koeffizienten seit Jahren bei etwa 0,47 – ein Wert, der auf erhebliche soziale Spannungen hinweist. Urbanes Luxusleben in Shanghai und Peking kontrastiert mit verarmten Landregionen. Die KPCh reagiert mit Programmen zum »Gemeinsamen Wohlstand« – aber ob es sich um reale Umverteilung oder symbolische Politik handelt, bleibt offen.

2. Mittelschicht als Sprengstoff
Die neue Mittelschicht ist Stütze und Risiko zugleich. Sie profitiert vom Wachstum, verlangt aber zunehmend Rechtsstaatlichkeit, Schutz vor Willkür, weniger politische Gängelung. Nancy Fraser weist auf die Ambivalenz solcher Schichten hin: Sie stabilisieren Systeme, solange ihre Ansprüche erfüllt werden; doch sie kippen ins Oppositionslager, wenn Unsicherheit wächst. Chinas Mittelschicht könnte die fragile Zustimmung zum Einparteisystem gefährden – nicht durch Revolution, sondern durch stillen Rückzug.

3. Marktlogik versus Parteikontrolle
Kapitalismus verlangt Freiheit, die Partei verlangt Kontrolle. Jack Ma wurde zum Symbolfall: Kaum wagte er Kritik, wurde er entmachtet. Streeck nannte dies das »Herrschaftsdilemma«: Diszipliniert man den Markt, erstickt man seine Dynamik; lässt man ihn frei, gefährdet er das politische Primat.

4. Abhängigkeit vom Weltmarkt
China ist die »Werkbank der Welt«. Doch diese Stärke ist zugleich Verwundbarkeit. Sanktionen im Halbleitersektor, »Decoupling«-Strategien, geopolitische Konflikte bedrohen die Basis des Modells. Joseph Vogl spricht von »neuen Abhängigkeiten«, die Globalisierung geschaffen hat – Abhängigkeiten, die gerade jene Staaten erpressbar machen, die sie am meisten nutzen.

5. Demografische Krise
Die Ein-Kind-Politik wirkt nach: Prognosen gehen davon aus, dass Chinas Erwerbsbevölkerung bis 2050 um 200 Millionen Menschen schrumpfen könnte. Alterung, sinkende Geburtenrate, Abwanderung – für ein wachstumsabhängiges System ist dies eine Zeitbombe.

6. Ökologische Sackgasse
Der Aufstieg Chinas war fossil getrieben: Kohle dominiert, Smog plagt Metropolen, Böden sind kontaminiert. Zwar investiert Peking massiv in erneuerbare Energien, aber der strukturelle Wachstumszwang konterkariert jede ökologische Korrektur. Fraser beschreibt dies als »ökologischen Widerspruch« des Kapitalismus: Wer ständig expandieren muss, zerstört seine eigenen Grundlagen.

7. Repression als Dauertechnik
Chinas Sozialkreditsystem, digitale Überwachung, Kontrolle über Gewerkschaften und NGOs sichern kurzfristige Stabilität – aber langfristig untergraben sie Legitimität. Streeck warnte: »Repression ist die teuerste Form politischer Stabilisierung.«

Historische Lektionen

Ein Blick zurück: Die Sowjetunion der 1980er Jahre starb an ökonomischer Stagnation und ideologischer Leere. Russland heute droht an geopolitischer Überdehnung und demografischem Verfall zu scheitern. China unterscheidet sich – es inkorporierte den Markt, gewann Flexibilität, bewahrte aber die ideologische Fassade. Doch die Ironie ist offenkundig: Je stärker China auf kapitalistische Dynamik setzt, desto größer wird die Gefahr, dass die Partei die Kontrolle verliert – eine Umkehrung des sowjetischen Scheiterns.

Hoffnung und Alternative: Öko-Sozialismus 2040

Und dennoch: Gerade in der Brüchigkeit dieses Hybridsystems liegt eine Möglichkeit. Denn die KPCh hat, ob aus Zynismus oder Überzeugung, stets darauf beharrt, dass der Markt kein Prinzip sei, sondern ein Werkzeug. Wer diesen Anspruch ernst nimmt, muss die Frage stellen, ob sich aus dem Experiment, das zugleich Kapitalismus entfesselt und Sozialismus beschwört, eine Perspektive entwickeln lässt, die tatsächlich über den zerstörerischen Zyklus von Wachstum und Krise hinausführt. Eine Reideologisierung, die Marx nicht nur zitiert, sondern als Korrektiv wiederbelebt, könnte das Gerüst sein. Nicht der Fetisch vom Bruttosozialprodukt, sondern die Einsicht, dass Ungleichheit den sozialen Frieden untergräbt, würde die Leitplanke bilden. Bildung, Gesundheit, Wohnen und Pflege könnten zu den neuen Säulen einer Legitimation werden, die nicht allein aus Wohlstand, sondern aus Sicherheit und kollektiver Verlässlichkeit gespeist wird.

Vor allem die ökologische Frage zwingt zum Umdenken. Wenn Nancy Fraser vom »ökologischen Widerspruch« des Kapitalismus spricht, dann trifft diese Diagnose auf China ebenso wie auf den Westen zu. Doch gerade weil Peking über die Möglichkeit verfügt, Planung und Lenkung verbindlich durchzusetzen, könnte es das erste Land sein, das Wachstum auf ökologische Zielpfade zwingt, statt sie den Launen von Investoren zu überlassen. Ein Szenario im Jahr 2040 wäre vorstellbar, in dem die Luft in den Metropolen nicht mehr giftig, sondern klar ist, in dem Schwerindustrie auf Wasserstoff umgestellt und das Stromnetz von erneuerbaren Energien getragen wird. Wohlstand würde nicht länger in Zahlen der Börse, sondern im Alltag der Menschen sichtbar: in leistbarem Wohnraum, in einer verlässlichen Pflege, in einer höheren Lebenserwartung.

Politisch wäre eine solche Transformation nur möglich, wenn die KPCh die Erstarrung ihres Apparates verhindert. Nicht durch eine westliche Mehrparteienherrschaft, die in China niemand ernsthaft erwartet, sondern durch eine innerparteiliche Öffnung, durch mehr Deliberation, mehr Transparenz, durch das Zulassen institutioneller Innovation, die den Monolithen geschmeidiger macht. In dieser Hinsicht könnte die Partei tatsächlich zu einer lernenden Organisation werden, die ihre Macht nicht durch Repression, sondern durch Anpassungsfähigkeit sichert. Und schließlich müsste auch die Außenpolitik die alte Logik der Großmächte hinter sich lassen. Nicht in imperialer Konkurrenz, nicht in der Aneignung von Rohstoffen, sondern in einem solidarischen Austausch mit den Ländern des globalen Südens, die Technologie, Infrastruktur und Wissen ebenso benötigen wie China Absatzmärkte und Partner. Nur dann wäre der Anspruch einer »Alternative« mehr als ein semantisches Spiel.

Ein solcher Weg würde weder an das klassische Bild des Sozialismus erinnern, noch ließe er sich in die Logik des Kapitalismus zurückübersetzen. Er wäre etwas Drittes: ein System, das den Markt nicht zerstört, sondern zähmt, und ihn zwingt, für das gesellschaftliche Ganze zu arbeiten. Ob es dazu den Willen und die Kraft gibt, bleibt die offene Frage. Aber die Möglichkeit ist vorhanden, und sie ist in einer Welt, die in ökologischen Krisen und geopolitischen Machtspielen taumelt, nicht gering zu achten.

Systemische Risiken – warum es scheitern könnte

Doch jeder Schritt ist fragil. Innovationsblockade durch Überkontrolle, Mittelschicht als Gegner von Umverteilung, Korruption im Kaderapparat, geopolitische Eskalationen, demografische Schranken, Repression als Dauertechnik – dies alles könnte das Projekt zum Scheitern bringen.

Die Partei könnte in die autoritäre Falle tappen: Markt und Repression verschmelzen zu einer Allianz der Zerstörung. China wäre dann nicht Alternative, sondern Spiegel westlicher Fehlentwicklungen.

Globale Dimension – Menschheitsfragen

Die Bedeutung Chinas erschöpft sich nicht im Inneren, nicht im Streit um Gini-Koeffizienten oder CO₂-Budgets, so entscheidend diese Indikatoren auch sind. Was sich in Peking entscheidet, betrifft die Welt als Ganze. Denn der globale Kapitalismus hat längst den Charakter einer Menschheitskrise angenommen: er steigert Ungleichheiten, er zerstört die natürlichen Grundlagen des Lebens, er verwandelt Geopolitik in Rohstoffkriege. Der Westen, so sehr er sich auch in grüner Rhetorik gefällt, ist Gefangener seiner eigenen Logik. Jede Transformation bleibt halbernst, weil sie die Rendite nicht gefährden darf. Russland wiederum bietet kein Modell, sondern eine Warnung: sein Oligarchenkapitalismus zeigt, dass autoritäre Systeme den Kapitalismus nicht überwinden, sondern ihn nur nationalistischer Tarnung unterwerfen können.

In diesem Panorama bleibt China als einziger Akteur, der durch seine Größe, seine politische Struktur und seine ökonomische Macht tatsächlich die Option einer systemischen Alternative offenhält. Es könnte ein Land sein, das die Verteilungsfrage nicht nur rhetorisch, sondern materiell beantwortet; das den ökologischen Umbau nicht dem Markt, sondern der Planung überlässt; das in der Außenpolitik Kooperation sucht, statt Konfrontation. Und doch lauert die Gefahr, dass es nur das Spiegelbild des Westens liefert: fossile Expansion unter anderem Namen, imperiale Konkurrenz in asiatischer Gestalt, Repression statt Beteiligung.

Die Menschheitsfragen sind in dieser Hinsicht Prüfsteine. Ob soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit oder Frieden – an diesen Achsen entscheidet sich, ob aus dem »Sozialismus chinesischer Prägung« mehr wird als eine ideologische Fassade. Sollte es Peking gelingen, die Ungleichheit nachhaltig zu mindern, ökologische Grenzen ernsthaft zur Richtschnur zu machen und geopolitische Eskalationen zu vermeiden, könnte die Welt ein Modell sehen, das zumindest ein Korrektiv zum entfesselten Kapitalismus darstellt. Sollte es scheitern, bleibt nur ein autoritärer Kapitalismus, der die Katastrophen des Westens in anderer Form wiederholt.

China ist damit Hoffnung und Risiko zugleich. Hoffnung, weil es als einziges großes Land strukturell die Fähigkeit besitzt, den Markt zu bändigen und politisch zu lenken. Risiko, weil es ebenso wahrscheinlich ist, dass es selbst in die Falle der Repression und imperialen Konkurrenz tappt. Doch in einer Welt, die an den Abgründen des Kapitals taumelt, ist schon die Möglichkeit einer Alternative von unschätzbarem Wert.

Die doppelte Wahrheit

China ist kein fertiges Modell, sondern ein gesellschaftliches Laboratorium. Hoffnung, weil es strukturell fähig ist, den Markt in den Dienst des Gemeinwohls zu zwingen. Risiko, weil es jederzeit in den autoritären Kapitalismus zurückfallen kann.

Am Ende bleibt die doppelte Wahrheit: Die Menschheit hat keine Garantie, dass China eine Alternative bietet. Aber sie hat auch keine andere Option, als auf diese Möglichkeit zu setzen. Denn wenn weder der Westen noch Russland das kapitalistische Zerstörungswerk aufhalten, dann könnte Peking – zwischen Marx und Markt – der letzte große Versuch sein, den Profit nicht länger herrschen, sondern dienen zu lassen.

About the author

Holger Elias

Studien der Journalistik und Kommunikations-Psychologie. War beruflich als Korrespondent und Redakteur bei Nachrichtenagenturen (reuters, cna usw.), für überregionale Tageszeitungen sowie für Rundfunk und Fernsehen tätig. Lebte und arbeitete knapp acht Jahre als EU-Korrespondent in Brüssel. Als Verleger und Publizist gab er knapp 140 Buchtitel heraus.

By Holger Elias

Neueste Beiträge

Archive

Get in touch