Ein 110-seitiger Strafantrag gegen Spitzenpolitiker und Rüstungsmanager zwingt Deutschland zu einer unbequemen Frage: Wenn der Staat Waffen liefert, während internationale Gerichte massive Völkerrechtsverletzungen attestieren – wird Außenpolitik zur strafbaren Beihilfe?
Die Rechtsanwält:innen Nadija Samour, Yolanda Scheytt, Robert Brockhaus und Benjamin Düsberg haben beim Generalbundesanwalt (GBA) einen Strafantrag eingereicht. Beschuldigt werden sieben Mitglieder der aktuellen und der vorigen Bundesregierung – darunter der amtierende Kanzler Friedrich Merz und Altkanzler Olaf Scholz – sowie vier Topmanager aus der Rüstungsindustrie (RENK, Rolls-Royce Solutions, Dynamit Nobel Defence). Der Kernvorwurf: Beihilfe zu Völkermord, zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit und zu Kriegsverbrechen – begangen durch die israelischen Streitkräfte im Gazastreifen; die Beihilfehandlung: genehmigte und durchgeführte Rüstungsexporte seit Oktober 2023. Der Antrag ist formal klar, die Zielrichtung ebenso: Ermittlungen, Vernehmungen, Anklage.
Der Text ist mehr als eine symbolische Geste. Er dokumentiert systematisch, welche Exporte genehmigt und geliefert wurden, welche Zuständigkeiten im Bundessicherheitsrat und in den Ressorts lagen und warum die juristischen Hürden für eine Beihilfe – jedenfalls nach Lesart des Antrags – nicht prohibitiv hoch sein sollen. Schon die Setzung der Beschuldigtenreihe signalisiert: Verantwortlichkeit wird nicht hinter Kabinettskollegialität oder Konzernhierarchien versteckt.
Das juristische Fundament – niedrige Schwelle, hoher Sprengsatz
Die LTO-Analyse von Max Kolter ordnet das ein: Beihilfe nach § 27 StGB verlangt objektiv „Hilfeleisten“, subjektiv bedingten Vorsatz. Der Bundesgerichtshof akzeptiert dafür seit Langem relativ geringe Anforderungen – inklusive sogenannter psychischer Beihilfe (Bestärken, Ermuntern), ohne strengen Kausalitätsnachweis dafür, dass genau diese Leiter, genau dieses Getriebe oder genau dieser Werfer am Tatort eingesetzt wurde. Juristisch gilt: Förderung genügt. Deshalb ist eine Beihilfestrafbarkeit »nicht gänzlich abwegig«, wie Völkerstrafrechtlerin Stefanie Bock im LTO-Stück betont. Das ist die juristische Zündschnur, die der Antrag nun ans Pulverfass der deutschen Israel-Politik legt.
Der Strafantrag übersetzt dieses Dogma aggressiv ins Völkerstrafrecht (§§ 6–8 VStGB i.V.m. § 2 VStGB): Nicht der Nachweis, dass ein konkret geliefertes Teil an einem konkret bezeugten Kriegsverbrechen mitwirkte, sei entscheidend; es genüge, dass bereitgestellte Güter die Einsatzfähigkeit der IDF insgesamt erhöhten – in einer Lage, in der schwerwiegende Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht dokumentiert und maßgeblichen Akteuren bekannt waren.
Die Wissenslage – was man wann wissen musste
Hier setzt der Antrag breit an: Er rekapituliert IGH-Anordnungen (26. Jan., 28. März, 24. Mai 2024), die ausdrücklich auf das plausible Risiko genozidaler Handlungen und die dramatische humanitäre Lage verweisen; später folgte die IStGH-Entscheidung von November 2024, Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant zu bestätigen (Verdacht u. a. Aushungern als Kriegswaffe, Mord als Verbrechen gegen die Menschlichkeit). Die Kommission des UN-Menschenrechtsrats veröffentlichte am 16. Sept. 2025 eine rechtliche Analyse, die Israels Verantwortung für Völkermord konstatiert; NGOs wie Amnesty und HRW dokumentierten systematische Angriffe auf Zivilbevölkerung, Infrastruktur und Gesundheitswesen. All das dient der Kernthese: Spätestens ab Frühjahr 2024 konnte niemand in der Bundesregierung ernsthaft davon ausgehen, dass weitere militärisch relevante Lieferungen risikoneutral seien.
Die Lieferkette – aus Deutschland, mit Genehmigung
Der Antrag benennt konkret: Matador-Panzerabwehrwaffen (Dynamit Nobel Defence), RENK-Getriebe für Merkava-Panzer, Rolls-Royce-Dieselmotoren für Merkava/Namer/Eitan, zudem Munitionskategorien und weitere Rüstungsgüter. Die Zahlen sind politisch brisant: Für 7.10. 2023 bis 13. Mai 2025 summieren sich genehmigte Einzelexporte auf über 485 Mio. €; die neue Regierung genehmigte im ersten Amtsmonat weitere Lieferungen (rd. 4 Mio. €). Dass RENK-Getriebe in in Gaza eingesetzten Merkava-Panzern verbaut sind, ist in der Akte angeführt; ebenso die fortgesetzte Genehmigungs- bzw. Auslieferungspraxis bis in den Sommer 2025.
Der Antrag arbeitet zudem mit politischer Selbstbekundung: Merz’ Erklärung vom 8. Aug. 2025, wonach die Bundesregierung erst ab jetzt keine Exporte mehr genehmige, die »im Gazastreifen zum Einsatz kommen können« – bei fortbestehenden Auslieferungen bereits genehmigter Güter. Diese Einlassung wird als belastendes Indiz gelesen: Kenntnis der Einsatzfähigkeit und bewusste Fortsetzung von Lieferketten trotz IGH-Mahnungen.
Kausalität vs. Kontext – der Knackpunkt vor dem GBA
Die LTO-Analyse setzt den realistischen Gegenakzent: Der GBA wird voraussichtlich nicht ohne Weiteres ermitteln. Die Karlsruher Praxis bei politisch aufgeladenen Anzeigen ist zurückhaltend; wahrscheinlich wird man den Kausalitätsmaßstab enger fassen: Welche Charge? Welches Getriebe in welchem Merkava, der wo beteiligt war? Welche Matador-Werfer aus welchem Jahrgang? Genau hier kontern die Antragsteller mit dem allgemeinen Strafrechtsdogma, das psychische und funktionale Förderung genügen lässt – gestützt auf § 2 VStGB (Geltung allgemeinen Strafrechts). Die Auseinandersetzung dreht sich damit weniger um reine Dogmatik, sondern um kriminalpolitische Deutungshoheit: Reicht Kontext-Wissen in einer fortdauernden, von Höchstgerichten gerügten Kriegführung, um die Schwelle des Anfangsverdachts zu überschreiten? Der Antrag sagt: ja. Die Karlsruher Praxis bisher: eher nein.
Wissen, Willen, Verantwortlichkeit – der subjektive Tatbestand
Für Beihilfe genügt bedingter Vorsatz: »Wissen um die wesentliche Tat und Billigung der Förderung.« Der Antrag rekonstruiert den Wissenshorizont der Exekutive entlang der IGH/IStGH-Beschlüsse, der UN-Berichte und der breiten NGO-Dokumentation; ergänzt um den Umstand, dass die Bundesregierung Exporte im Frühjahr 2024 zwar drosselte, aber nicht einstellte – und bis August 2025 keine klare, umfassende Sperre zog. Das zielt auf das »Nicht-Nicht-Wissen«: Wer nach mehrfachen internationalen Warnungen weiter liefert, nimmt Rechtsgutverletzungen zumindest billigend in Kauf. Das ist scharf, aber argumentativ folgerichtig.
Immunitäten, Bundessicherheitsrat, parlamentarische Zone
Hindern Immunität und Indemnität Ermittlungen? Der Antrag differenziert: Indemnität schützt parlamentarisches Verhalten – der Bundessicherheitsrat ist Regierungshandeln. Immun sind nur (noch) sitzende Abgeordnete unter den Beschuldigten, die der Bundestag aufheben könnte. Politisch heikel, juristisch möglich. Und die Geheimhaltung des Bundessicherheitsrats? Sie schützt keine Straftaten, erschwert aber die Beweisführung. Genau deshalb insistiert der Antrag auf Ermittlungen – erst im Verfahren ließen sich Abstimmungsverhältnisse, ministerielle Ressortvermerke und Zuleitungen sichten.
Unternehmen auf der Anklagebank – Verbotsirrtum? Schön wär’s
Die Industrieebene wird nicht als Randnotiz abgehandelt. Der Antrag adressiert die eigenständige Pflicht der Unternehmen, den Verbleib und die Nutzung gelieferter Güter zu prüfen. Ein »unvermeidbarer Verbotsirrtum«, weil die Regierung genehmigte, soll nicht tragen: Genehmigungen entbinden nicht von menschenrechtlicher Sorgfalt, erst recht nicht, wenn in Echtzeit IGH/IStGH und UN die Risiken benennen. Diese Linie spiegelt den globalen Trend: Unternehmensverantwortung in bewaffneten Konflikten wird juristisch enger, reputativ noch schneller.
Politische Erzählung kontra Rechtsstaatstest
Die Bundesregierung verweist traditionell auf israelische Zusicherungen, das humanitäre Völkerrecht zu achten. Der Antrag setzt dem entgegen: Zusicherungen, die trotz wiederholter IGH-Anordnungen folgenlos bleiben, verlieren Evidenzwert. Spätestens wenn ein Staat sein Verhalten nicht anpasst, kippt die Vertrauensgrundlage. Auch diese Passage zielt auf den subjektiven Tatbestand: Wer sich fortgesetzt auf leerlaufende Zusagen stützt, will möglicherweise täuschend »vertrauen« – oder nimmt die Rechtsgutsgefährdung hin.
Die zwei Pfade ab Karlsruhe
Was ist realistisch? Pfad 1: Der GBA verneint den Anfangsverdacht, wie schon 2024 in vergleichbaren Anzeigen – mit Verweis auf fehlende individuelle Zurechnung und unklare Kausalbeiträge. Die Antragsteller könnten dann einen Klageerzwingungsantrag stellen; am Ende müsste sich der BGH zur Schwelle von Beihilfe in einer staatlich genehmigten Lieferkette äußern. Pfad 2: Der GBA eröffnet ermittlungsleitende Prüfungen (keine Vorverurteilung), um die Zurechnungskette zu klären: Lieferkette → Endverbleib → Einsatzmuster → Kenntnisstände. Politisch wäre schon dieser Schritt tektonisch: Zum ersten Mal stünden die Choreographien des Bundessicherheitsrats im Lichte möglicher VStGB-Bezüge.
Was meine Lesart daraus macht
Die Stärke des Antrags liegt nicht nur im juristischen Griff, sondern in der Verschiebung des epistemischen Standards: Nicht mehr „Kann Deutschland wissen, wo die einzelne Schraube landete?“, sondern „Konnte Deutschland nicht wissen, wozu das Gesamtsystem diente?“ Die LTO-Analyse dämpft zu Recht die Erwartungen an ein baldiges Ermittlungsverfahren, aber sie bestätigt – im Kern liberal-dogmatisch – dass der Vorwurf dogmatisch möglich ist. Die Lücke, die bleibt, ist die des Mutes zur Gleichbehandlung: Wenn psychische Beihilfe bei Alltagsdelikten genügt – warum nicht bei Staatsräson?
Und ja: Das Ganze ist auch PR. Aber PR ist nicht gleich Propaganda. Öffentlichkeitswirksamkeit kann legitimer Bestandteil rechtspolitischer Intervention sein – zumal dort, wo gerichtliche Verfahren sich in rechtlichen Hinterzimmern entzünden. Genau deshalb arbeitet der Antrag mit doppelter Buchführung: er zwingt die Justiz zur Stellungnahme und hinterlegt die Beweislast für die Geschichtsschreibung.
Der Elefant im Raum heißt Vermeidbarkeit
Ob Karlsruhe die Schwelle nimmt, ist offen. Aber der Fall zwingt zur Klarheit: Spätestens seit den IGH-Anordnungen und der IStGH-Haftbefehlslage war die Fortsetzung militärisch relevanter Exporte politisch gewollt und rechtlich hochriskant. Wer in diesem Kontext liefert, liefert nicht mehr nur Güter, sondern Argumente: für die Anklage der Beihilfe – oder für die Entlastung durch präzise, überprüfbare Gegenbeweise zur Lieferkette. Schweigen, das zeigt dieser Antrag, ist keine Option mehr.
Kurz gesagt: Der Strafantrag ist juristisch hart an der Kante, aber nicht abseitig; politisch ist er ein Spiegel, den sich Regierung und Industrie nicht mehr vom Leib halten können. Sollte der GBA abwinken, bleibt die Frage im Raum – und sie wird lauter: Wie viel »Staatsräson« verträgt das Völkerstrafrecht? Und wie viel Völkerstrafrecht die deutsche Staatsräson?
Quellenhinweis: Analyse des LTO-Artikels von Dr. Max Kolter (20.09.2025) sowie Auswertung des eingereichten Strafantrags (110 Seiten; zentrale Passagen zu Beschuldigten, Exportpositionen, IGH/IStGH-Bezug, Immunitäten und unternehmensrechtlicher Verantwortung).