Nahost: Schweigen auf dem Campus

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Es gibt Zahlen, die wie ein Schlag ins Gesicht wirken: Fast 85 Prozent der befragten Wissenschaftlerinnen mit Bezug zum Nahen Osten sehen ihre akademische Freiheit seit dem 7. Oktober 2023 gefährdet. Noch drastischer fällt das Bild unter Postdocs aus: 90,5 Prozent spüren Druck, ihre Arbeit nicht mehr frei ausüben zu können.

Es sind Ergebnisse, die nicht aus irgendeiner agitatorischen Broschüre stammen, sondern aus einer systematischen Studie des Berliner Zentrums für interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung. Verfasst von Jannis Julien Grimm und Kolleginnen, basiert die Untersuchung auf einer Umfrage unter rund 2000 Forscher*innen. Und sie dokumentiert, was viele schon geahnt haben: Der Diskursraum an deutschen Hochschulen schrumpft.

Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel und der darauffolgenden israelischen Militärintervention im Gazastreifen ist das Klima im akademischen Alltag vergiftet. Wer sich äußert, riskiert Anfeindungen, Stigmatisierung, im schlimmsten Fall auch den Verlust von Drittmitteln. Wer schweigt, schützt vielleicht die eigene Karriere – und verrät damit das Ideal der freien Wissenschaft.

Selbstzensur als neue Normalität

Die Studie benennt klar: 76 Prozent der Befragten halten sich bei Israel-bezogenen Themen zurück. Am stärksten betrifft das öffentliche Veranstaltungen (81 Prozent), Beiträge in den Medien (54 Prozent) – aber auch das eigene Kollegium (42 Prozent). Knapp ein Viertel sagt, sie hätten »oft« das Gefühl, nicht frei reden zu können. In einem Land, das sich gern auf seine Grundrechte beruft, ist das ein alarmierender Befund.

Die Gründe wirken banal und brutal zugleich: Angst vor Missverständnissen. Angst vor öffentlicher Anfeindung. Angst vor beruflichen Konsequenzen. Wer in der prekären Zwischenwelt von Drittmittelprojekten und befristeten Verträgen lebt, zensiert sich doppelt. Besonders Promovierende und Postdocs berichten von ständiger Unsicherheit. »Ich wäge jedes Wort ab, als ginge es um ein juristisches Verfahren, nicht um ein Seminar«, notiert ein Teilnehmer. Eine andere schreibt: »Ich habe Themen gestrichen, die mich fachlich interessieren, nur um nicht in Gefahr zu geraten.«

Wenn Institutionen Druck machen

Mehr als die Hälfte der Befragten spürt einen gestiegenen Druck von ihren eigenen Institutionen, das Thema Israel/Palästina lieber zu meiden. Nur ein gutes Viertel empfindet den umgekehrten Druck: sich überhaupt äußern zu müssen. Schweigen ist zur Erwartungshaltung geworden.

Knapp die Hälfte hat bereits konkrete Angriffe erlebt: Hassrede und Drohungen im Netz, Antisemitismusvorwürfe, mediale Diffamierung, Ausladungen von Podien. »Ich wurde wegen einer nüchternen Analyse als ‚Terrorversteher‘ bezeichnet«, schildert eine Kulturwissenschaftlerin. Ein Politologe berichtet von »abgesagten Vorträgen, weil die Hochschulleitung kein Risiko eingehen wollte«.

Kein simples Pro und Contra

Bemerkenswert ist, dass die Daten keine Lagerbildung im simplen Sinn »pro-israelisch« oder »pro-palästinensisch« erkennen lassen. Überwältigend groß ist etwa der Konsens für einen Waffenstillstand in Gaza. Ebenso hoch ist die Zustimmung zum besonderen Schutz jüdischen Lebens in Deutschland. Auch die Forderung nach einem akademischen Boykott Israels findet unter den Befragten kaum Rückhalt.

Die Bruchlinien verlaufen anders: bei der Bewertung bewaffneten Widerstands, beim Recht Israels auf Selbstverteidigung, im Umgang mit Campusprotesten. Deutlich wird, wie unterschiedlich Empathie verteilt wird: Jüdische und israelische Hochschulangehörige erfahren nach Wahrnehmung der Befragten breite Solidarität. Palästinensische, arabische und muslimische Studierende dagegen deutlich weniger. »Die Empathie ist asymmetrisch verteilt – wir tun so, als ginge es nur um eine verletzte Seite«, notiert ein Befragter.

Wissenschaftsfreiheit unter doppeltem Druck

Die Berliner Studie reiht sich in einen internationalen Befund ein. Schon das Middle East Scholar Barometer in den USA zeigte, dass Nahostforscher*innen unter massivem Druck stehen, Kritik an Israel zu vermeiden. Auch dort gaben rund 80 Prozent an, sich selbst zu zensieren. Während in den USA politische Eingriffe auf nationaler Ebene im Vordergrund stehen, prägen in Deutschland öffentlicher Diskurs, Medienkampagnen und institutionelle Reaktionen das Klima.

Das Ergebnis ist ähnlich: Wissenschaftsfreiheit wird nicht durch direkte staatliche Zensur beschnitten, sondern durch eine Kombination aus Angst, öffentlicher Diffamierung und institutioneller Unsicherheit. »Ich habe meine Stimme gesenkt – nicht, weil ich keine Haltung habe, sondern weil die Risiken größer geworden sind als der Erkenntnisgewinn«, heißt es in einer Freitextantwort.

Zwischen Anspruch und Realität

Die Diskrepanz könnte größer nicht sein: Einerseits gelten Universitäten als Orte des offenen Diskurses, andererseits erzeugt genau dieser Diskurs Räume des Schweigens. Viele Forschende fordern deshalb klar definierte Schutzmechanismen: transparente Verfahren im Umgang mit Beschwerden, Beratungsstellen für Betroffene, Garantien für Lehr- und Redefreiheit. Vor allem aber eine Kultur, die Ambivalenzen zulässt, statt sie reflexartig zu sanktionieren.

Das Fazit der Studie ist ernüchternd: Wissenschaftsfreiheit in Deutschland steht nicht nur unter äußerem Beschuss, sondern leidet an innerer Erosion. Universitäten laufen Gefahr, sich aus Angst vor Kontroversen selbst zu entkernen.

Und so steht am Ende die unbequeme Frage: Wie viel Dissens hält die deutsche Wissenschaft wirklich aus? Wenn das Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit im Alltag durch Schweigen ersetzt wird, bleibt von der viel beschworenen »wehrhaften Demokratie« nur eine Hülle.

About the author

Holger Elias

Studien der Journalistik und Kommunikations-Psychologie. War beruflich als Korrespondent und Redakteur bei Nachrichtenagenturen (reuters, cna usw.), für überregionale Tageszeitungen sowie für Rundfunk und Fernsehen tätig. Lebte und arbeitete knapp acht Jahre als EU-Korrespondent in Brüssel. Als Verleger und Publizist gab er knapp 140 Buchtitel heraus.

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