Ukraine: Die Geschichte, die Sie nicht hören sollen

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Es ist ein klassisches Streitgespräch im Schatten eines Krieges: Liegt der Ursprung der russischen Invasion in Putins Sehnsucht nach einem neuen Imperium – oder in westlichen Fehlentscheidungen, die Moskau in die Ecke drängten? Der US-Publizist Scott Horton – Libertärer, Direktor des Libertarian Institute und Autor des Buches »Provoked« – legt im Interview mit Zain Raza von acTVism Munich (28.08.2025) eine Anklageschrift gegen Washington und die NATO vor. Sein Kern: Nicht Romantik, sondern Geopolitik. Nicht »Wiedergutmachung des Zarenreichs«, sondern Sicherheitsdilemma. Und: Viele Wegmarken des Konflikts sind dokumentiert – nur liest man sie ungern.

Die Erzählung vom »Unprovozierten«

Horton nimmt die Standardformel auseinander: Putins Satz vom »größten geopolitischen Unglück« wird oft als Beweis expansiver Großmachtträume zitiert. Er hält entgegen: Putin habe zwar den Zerfall und die »gestrandete Diaspora« russischsprachiger Minderheiten beklagt, daraus aber kein Programm zur Wiederherstellung der UdSSR abgeleitet. Entscheidend sei, so Horton, dass Russland 2014 trotz propagandatauglicher Vorwände eben nicht »bis Kiew« fuhr, sondern auf Minsk-Verhandlungen setzte. Die Minsker Vereinbarungen wurden 2015 vom UN-Sicherheitsrat bekräftigt – ein Detail, das in vielen Talkshows fehlt, aber im Protokoll steht¹.

2014: Brennpunkt Donbass, Brennpunkt Deutung

Nach dem Sturz der Janukowytsch-Regierung eskalierte der Osten: Kiew startete die »Antiterror-Operation« gegen bewaffnete Separatisten, während Moskau die Krim annektierte und im Donbass begrenzt militärisch eingriff. Dass Kiew am 14./15. April 2014 tatsächlich zum militärischen Vorgehen aufrief, ist unstrittig. Ebenso belegt: Der damalige CIA-Direktor John Brennan war just an diesem Wochenende in Kiew – das Weiße Haus bestätigte den Besuch, wies aber jede operative Einflussnahme zurück. Hortons Kausalität bleibt streitbar, der Fakt an sich nicht².

Minsk: Vertrag, Papier, Pulverfass

Minsk II verlangte beiderseitigen Waffenstillstand, Rückzug schwerer Waffen und einen Sonderstatus für Teile des Donbass – und blieb doch politische Fata Morgana. Dass die Resolution 2202 den Fahrplan völkerrechtlich hinterlegte, zeigt nur, wie groß die Lücke zwischen Signatur und Umsetzung war. Hier ist Hortons Vorwurf an Washington und Kiew hart, aber nicht aus der Luft: Die Jahre 2015–2021 waren ein Mix aus stockender Umsetzung, Scharmützeln und wachsender NATO-Nähe Kiews – ohne politische Lösung³.

NATO-Erweiterung: Die »Not one inch«-Akte

Hortons Dreh- und Angelpunkt: das Versprechen, die Allianz nach 1990 »keinen Zoll« ostwärts zu verschieben. Juristisch gibt es kein entsprechendes Vertragsverbot. Politisch aber existieren Aktenberge mit Zusicherungen westlicher Spitzen an Gorbatschow – eine Sammlung, die das National Security Archive minutiös dokumentiert. Dass diese Zusagen später politisch »kreativ« uminterpretiert wurden, ist belegbar – und erklärt, warum NATO-Rhetorik in Moskau als Wortbruch gelesen wird⁴.

Ein zweiter neuralgischer Punkt in Hortons Chronik: das NATO-Gipfelkommuniqué von Bukarest 2008, das der Ukraine und Georgien eine Mitgliedschaft in Aussicht stellte – ohne Sicherheitsgarantie, aber mit Signalwirkung. Dass diese Formel heute von Veteranen der US-Diplomatie als falscher Dreh bezeichnet wird, ist keine Randnotiz, sondern späte Einsicht⁵.

Interoperabilität als De-facto-Anbindung

Horton verweist darauf, dass die Ukraine seit Jahren technisch, logistisch und doktrinär NATO-fähig gemacht wurde – inklusive Lieferungen wie den US-»Javelin«-Panzerabwehrraketen (DSCA-Notifizierung 2018). Für Moskau ist das kein Fuß in der Tür, sondern eine Rampe. Man muss diese Lesart nicht teilen, um den Sprengsatz zu erkennen: Aufrüstung in einem schwelenden Territorialkonflikt – und ein Gegner, der jeden Meter als Vorfeld von Moskau betrachtet⁶.

Raketen und Verträge: Technik wird Politik

Was in Washington als Schutz gegen Iran verkauft wurde, liest Moskau als Dolchstoß: Stationierung landgestützter Aegis-Ashore-Anlagen mit MK-41-Startern in Rumänien und Polen. Die US-Regierung betont, sie seien für Abwehrflugkörper konfiguriert. Arms-Control-Analysen verweisen dagegen auf die Dual-Use-Historie der MK-41-Familie und die INF-Logik: Was gleich konstruiert ist, lässt sich auch anders bestücken. In Putins Sicherheitsnarrativ ist das die »Klinge am Hals« – 15 Flugminuten nach Moskau⁷.

Die klassische Warnung – und ihr Überhören

Wer Hortons Perspektive als »Randmeinung« abtut, sollte in den Archivkeller: Der legendäre Burns-Drahtbericht »Nyet Means Nyet« (1.2.2008) protokolliert Moskaus rote Linien bei Ukraine-NATO klarer, als es heutigen Debatten lieb ist – nicht als Putin-Pamphlet, sondern als US-Außenamtsbericht. In der nüchternen Sprache der Depeschen steht, was heute wieder Kriegsrhetorik ist: Wer Kiew in das Bündnis zieht, riskiert innenpolitische Spaltung und russische Gegenmacht⁸.

Rechte Milizen: Azov, Andrij Bilezkyj und die Grauzonen

Horton zeichnet ein düsteres Bild vom Einfluss ukrainischer Ultranationalisten. Wahr ist: Der Azov-Verband entstand 2014 am rechten Rand und wurde später in die Nationalgarde integriert; der US-Kongress blockierte jahrelang militärische Unterstützung für die Einheit – eine Sperre, die 2024 aufgehoben wurde. Ebenso wahr: Azov bestreitet eine heutige »Nazi-Identität«, steht aber wegen Symbolik, Personalien und Frühphasen-Rhetorik unter Dauerverdacht. Und Bilezkyj? Der vielzitierte Satz von der »Kreuzzugsführung der weißen Rassen« findet sich in seriösen Dossiers als zugeschriebene, später von ihm bestrittene Aussage – ein toxisches Erbe, das nicht verschwindet, weil man es dementiert⁹.

RAND und die Kunst der Überdehnung

Horton verweist auf eine RAND-Studie von 2019: »Extending Russia«. Sie listet Instrumente, mit denen man Moskau kostspielig binden könne – von Sanktionen bis Stellvertreterkriegen. Wichtig: Die Studie warnt zugleich vor Eskalationsrisiken. Mit anderen Worten: Das Ertasten der Schmerzgrenze war Methode – die Gefahr der Grenzüberschreitung einkalkuliert¹⁰.

Ein Krieg mit langen Schatten

Horton rechtfertigt die Invasion nicht – er verortet sie. Seine These ist unbequem, weil sie westliche Politik aus der Opfer-Täter-Komfortzone zerrt. Zugleich bleibt sie dort angreifbar, wo Korrelation zur Kausalität wird: Brennan-Besuch ist nicht Befehl, Interoperabilität nicht Beitritt, »Not one inch« kein Vertragstext. Aber: Die Summe der Signale – Bukarest 2008, Raketenstationierungen, Waffenpakete, die Aushöhlung von Minsk – ergibt ein Bild, das Putins Aggression nicht entschuldigt, wohl aber erklärt, warum Moskau sein Handeln als defensive Zwangslage verkauft. Dass Putin diesen Frame 2025 erneut bemüht und NATO-Erweiterung als Friedenshindernis brandmarkt, zeigt die Halbwertszeit der Fehler – hüben wie drüben¹¹.

Endnoten

  1. UN-Sicherheitsrat, Resolution 2202 (Minsk II).
  2. Al Jazeera & weitere Berichte: Beginn der »Antiterror-Operation« / Bestätigung von Brennans Kiew-Besuch (April 2014).
  3. UN-Resolution 2202; Analyse Minsk II.
  4. National Security Archive: »What Gorbachev Heard« (Zusicherungen 1990).
  5. NATO-Gipfelerklärung Bukarest 2008; Berichte zur US-Debatte.
  6. DSCA/Federal Register: Javelin-Lieferungen 2018.
  7. Arms-Control-Analysen zu Aegis Ashore/MK-41.
  8. Burns-Kabel »Nyet Means Nyet« (1.2.2008).
  9. Dossiers & Medienberichte zu Azov/Andrij Bilezkyj.
  10. RAND Corporation: »Extending Russia« (2019).
  11. Reuters (01.09.2025): Putins erneute NATO-Bezugnahme.

About the author

Holger Elias

Studien der Journalistik und Kommunikations-Psychologie. War beruflich als Korrespondent und Redakteur bei Nachrichtenagenturen (reuters, cna usw.), für überregionale Tageszeitungen sowie für Rundfunk und Fernsehen tätig. Lebte und arbeitete knapp acht Jahre als EU-Korrespondent in Brüssel. Als Verleger und Publizist gab er knapp 140 Buchtitel heraus.

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