Der Fall Bolsonaro als Testfall für rechtsstaatliche Resilienz in Lateinamerika. Von Holger Elias
Die juristische Eskalation um Brasiliens Ex-Präsident Jair Bolsonaro ist mehr als ein innenpolitisches Drama. Sie offenbart die neuralgischen Knotenpunkte geopolitischer Einflussnahme im globalen Süden, wo Justiz, Diplomatie und Wirtschaftssanktionen zunehmend miteinander verschränkt werden. Dass Washington ausgerechnet auf den brasilianischen Richter Alexandre de Moraes mit Visasanktionen reagiert, während dieser ein Verfahren gegen einen ehemaligen Staatschef wegen versuchten Staatsstreichs leitet, stellt einen außenpolitischen Tabubruch dar. Inmitten globaler Systemkonflikte rückt Brasilien so unfreiwillig ins Zentrum eines ideologischen Stellvertreterkampfes.
Jair Bolsonaro gilt international als Symbolfigur des autoritären Rechtspopulismus in Lateinamerika. In seiner Amtszeit (2019–2023) schwächte er systematisch demokratische Institutionen, verharmloste die Militärdiktatur, betrieb eine aggressive Umwelt- und Außenpolitik – und zweifelte offen das Wahlergebnis an, das Lula da Silva zurück an die Macht brachte. Das laufende Verfahren gegen ihn wegen versuchter Wahlumkehr ist eine juristische Nagelprobe für die brasilianische Demokratie. Die Maßnahmen des Obersten Gerichts unter Leitung von Alexandre de Moraes sind in ihrer Härte ungewöhnlich – aber juristisch nachvollziehbar und verfassungsgemäß.
Ein Präzedenzfall politischer Einmischung
Mit der Verhängung von Visasanktionen gegen einen amtierenden Höchstrichter eines demokratischen Landes durch US-Außenminister Marco Rubio überschreitet Washington eine bislang respektierte Grenze: die Unabhängigkeit der Justiz fremder Demokratien. Dass diese Maßnahme auf den direkten Druck Trumps zurückzuführen ist, der Bolsonaro als »Opfer einer Hexenjagd« stilisiert, stellt die außenpolitische Linie der USA unter Präsident Trump erneut in den Dienst persönlicher Loyalitäten – und offenbart die Rückkehr zur konfrontativen, transaktionalen Außenpolitik des »America First«.
Der Schulterschluss zwischen Trump und Bolsonaro geht weit über symbolische Unterstützung hinaus. Mit der Ankündigung einer 50 %igen Strafzollerhebung auf brasilianische Produkte ab August nutzt Trump gezielt ein wirtschaftliches Druckmittel, um Einfluss auf die brasilianische Justiz auszuüben – ein Vorgehen, das dem klassischen Muster autoritärer Erpressung entspricht. Moraes interpretiert dies in seiner Urteilsbegründung ausdrücklich als Versuch der Einmischung in ein laufendes Verfahren. Es ist ein beispielloser Fall der Instrumentalisierung ökonomischer Mittel zur Sabotage richterlicher Unabhängigkeit.
Brasilien als Machtfeld zwischen USA und China
Während sich Bolsonaro als Bollwerk gegen chinesischen Einfluss stilisiert (»China übernimmt Brasilien«) und sich der Rückendeckung einer »nuklear bewaffneten Nation im Norden« (gemeint: USA) versichert, verfolgt die aktuelle Lula-Regierung eine pragmatische Außenpolitik, die sich verstärkt dem Globalen Süden und den BRICS-Staaten zuwendet. Dass Trump die BRICS-Staaten jüngst als »Achse der Anti-Amerikaner« bezeichnete und neue Strafzölle androhte, zeigt: Die ökonomische Verflechtung Lateinamerikas wird zum geopolitischen Zankapfel, und Brasilien spielt dabei eine zentrale Rolle.
Der Fall Bolsonaro wird zum juristischen Prüfstein für die Fähigkeit eines Landes, sich gegen externe politische Einflussnahme zu behaupten. Dass die USA nicht Bolsonaro, sondern den Richter sanktionieren, ist ein Signal an andere Länder mit schwächerem Rechtsstaat: Die Justiz wird zum legitimen Ziel, wenn sie sich den geopolitischen Interessen widersetzt. Der Konflikt könnte zu einer stärkeren rechtlichen Selbstbehauptung Brasiliens führen – oder zur weiteren Fragmentierung seiner politischen Institutionen.
BRICS, Lula und die globale Systemfrage
Während Lula als Gastgeber des BRICS-Gipfels Trump mit einem »unerwünschten Kaiser« vergleicht, schlägt Washington zurück. Der Vorwurf: anti-amerikanische Politik, flankiert von wirtschaftlichem Druck. Dabei geht es längst um mehr als Bolsonaro: Die neue Selbstbehauptung der BRICS-Staaten unterstreicht den Wunsch nach multipolaren Machtverhältnissen. Dass Bolsonaro diesen Staaten ein »Bündnis von Diktatoren und Kriegsverbrechern« attestiert, demonstriert die ideologische Trennlinie zwischen dem »alten Westen« und aufstrebenden Allianzen.
Die Eskalation um Bolsonaro steht exemplarisch für den geopolitischen Systemkonflikt zwischen westlicher Dominanz und multipolarer Selbstbestimmung. Was vordergründig ein innenpolitischer Justizkonflikt ist, erweist sich als transnationales Ringen um Souveränität, Recht und Macht. In dieser Gemengelage droht die Justiz zur Arena der Außenpolitik zu werden – mit unvorhersehbaren Folgen für die Stabilität demokratischer Ordnungen weltweit.
Empfohlene Lektüre:
- Noah Feldman: “The Broken Constitution – Lincoln, Slavery, and the Refounding of America”
- Boaventura de Sousa Santos: “The End of the Cognitive Empire – The Coming of Age of Epistemologies of the South”
- Kathryn Sikkink: “The Justice Cascade – How Human Rights Prosecutions Are Changing World Politics”