Im Gewölbe des argentinischen Obersten Gerichtshofs hat ein unscheinbarer Stapel Holzkisten das verdrängte Kapitel der nationalen Geschichte abrupt aufgerissen. Tausende roter Mitgliedsbücher der Deutschen Arbeitsfront legen Zeugnis davon ab, wie tief NS-Strukturen einst ins soziale Gewebe des Landes einsickerten – und wie lange ihr Schatten im offiziellen Archiv unbeachtet blieb. Die brisante Wiederentdeckung fällt in eine Ära, da Präsident Javier Milei Transparenz verspricht, zugleich aber mit dem Fund das heikle Wechselspiel von Gedächtnispolitik und Imagepflege offenbart. So steht das Land erneut vor der Frage, ob es seine Archive lediglich entstaubt oder endlich die darin lagernden Konflikte öffentlich verhandelt.

Der staubige Geruch von feuchtem Karton und vergilbtem Papier hängt noch immer im Treppenhaus an der Calle Talcahuano 550, wo Argentiniens Oberster Gerichtshof residiert. Dort unten, eine Etage unter den Marmorsäulen der Republik, öffneten Gerichtsdiener Anfang Mai zwölf Holzkisten, die seit acht Jahrzehnten als provisorische Möbelstützen hergehalten hatten. Zum Vorschein kamen Hunderte Propagandafotos mit dem Konterfei Adolf Hitlers, Stöße von Reichsadler-Postkarten und vor allem jene berüchtigten »libretas rojas« der Deutschen Arbeitsfront, rot umrandet, mit der Zahnrad-Swastika im Zentrum, berichet die Reuters-Reporterin Leila Miller. Die Szene wäre komisch, wirkte sie nicht so gespenstisch – wie ein Schnappschuss aus dem Archiv tief verdrängter Gespenster der argentinischen Geschichte.
Der Präsident des Gerichtshofs, Horacio Rosatti, ließ den Rabbiner Eliahu Hamra und den Direktor des Holocaust-Museums, Jonathan Karszenbaum, hinzuzitieren, bevor er die Kisten anrühren ließ. Man fürchtete, so ist zu hören, weniger die Schimmelsporen als die politische Radiaktivität des Fundes. Noch in der gleichen Nacht rief Silvio Robles, Rosattis Kabinettschef, Hamra an, um diskret Rat einzuholen: Wie präsentiert man eine Hinterlassenschaft des Dritten Reichs, ohne sich selbst den Ruch der Komplizenschaft zuzuziehen?
Dass eine solche Frage 2025 überhaupt wieder virulent wird, verdankt sich einer Regierung, die wie kaum eine zuvor das Archivische zur Staatsräson erhebt. Präsident Javier Milei, selbsternannter »Anarco-Kapitalist« mit Kippa-Sammlung, hat Ende April rund 1.850 bisher gesperrte Akten über Nazi-Fluchtrouten freigegeben – ein symbolischer Akt, der neben Applaus auch den Verdacht auf kalkulierte Vergangenheitsbewirtschaftung nährt, schlussfolgert die Buenos Aires Times.
Denn dass Argentinien nach 1945 gleichermaßen Zufluchtsort für Überlebende wie für Schreibtischtäter war, ist Gemeinwissen. Adolf Eichmann wohnte unter dem Alias »Ricardo Klement« in einem Haus mit ungepflegtem Vorgarten, bis Mossad-Agenten ihn am 11. Mai 1960 an der Bushaltestelle von San Fernando überwältigten – eine Korrektur der Geschichte, ausgeführt als Nacht- und Nebelaktion, weil Buenos Aires Auslieferungen scheute. Der Lagerarzt Josef Mengele flanierte gar noch Ende der Fünfzigerjahre unbehelligt über die Avenida Santa Fe.
In Buenos Aires hatte man früh ein zwiespältiges Verhältnis zu Hitlers Reich. 1938 füllten 10.000 Deutschstämmige das Luna-Park-Stadion, um den »Anschluss« Österreichs zu feiern; im gleichen Jahr begann die lokale Presse, über »quinta-columnistas« zu raunen. Als im Juni 1941 das japanische Frachtschiff Nan-a-Maru achtundachtzig Kisten aus Tokio entlud, witterte die frisch eingesetzte parlamentarische Untersuchungskommission »Actividades Anti-Argentinas« Nazi-Propaganda. Fünf der Kisten wurden geöffnet, die Ladung beschlagnahmt, der Streit landete – kaum zufällig – beim Höchstgericht, das sich als neutrale Verwahrstelle anbot.
Doch ein anderer Aktenstrang erzählt von Polizeirazzien einen Monat später: Am 23. Juli 1941 durchsuchten Beamte gleichzeitig die Büros der »Unión Alemana de Gremios« und der »Federación de Beneficencia y Cultura Alemana«. Dabei stellten sie Tausende jener roten Mitgliedsbücher sicher, die nun wieder ans Licht kamen. La Prensa berichtete damals, die Beute sei in den Gerichtskeller gewandert. Der Historiker Julio Mutti, der die Spur der Notebooks seit Jahren verfolgt, erkannte die Provenienz sofort und spricht von einer Verwechslung, ja bewussten Verschleierung durch die Justizverwaltung.
Die Frage lautet also nicht mehr, ob Argentinien Nazimaterial hortete, sondern warum es 84 Jahre brauchte, bis jemand einen Pressefotografen hinzuzog. Der Historienfummel, mit dem das Gericht seine Museumserzählung jetzt drapiert – man habe die Kisten »erst bei Renovierungsarbeiten« erblickt – ist schwer mit den Erinnerungen von Archivbediensteten vereinbar, die das Holzgestell schon in den Siebzigern als Stolperfalle kannten. Einer beschrieb gegenüber Journalisten, wie er vor zehn Jahren »rote Hefte mit deutschen Namen« in einer angelehnten Schachtel sah und den Befehl erhielt: nicht anfassen.
Faktische Amnesie ist selten Zufall. Michel Foucault erinnerte daran, dass Archive keine neutralen Ablagen, sondern Kampfstätten sind, in denen Regimes ihre Erinnerungsökonomie ordnen. Doch jede Ökonomie kennt Bilanzstichtage: 2017 beschlagnahmten Polizisten hinter einer verschiebbaren Bücherwand in Béccar 75 Originalartefakte – Hitler-Büste inklusive – die heute im Holocaust-Museum konserviert werden. Damals nannte Sicherheitsministerin Patricia Bullrich gegenüber der Zeitung The Guardian den Fund »historisch«. Es folgte – nichts.
Auch frühere Transparenzoffensiven versandeten. Mauricio Macri prägte 2016 die Parole von der »desideologisierten Aufarbeitung« und ließ Teile des Diktaturarchivs öffnen, wobei er sich weigerte, über Opferzahlen zu debattieren; Menschenrechtsgruppen sprachen von Geschichtsrevisionismus. Die nun veröffentlichten Akten könnten also ebenso zum Aktensarg werden – aufgehübscht für die Kameras und doch bald wieder verstaubt.
Der Kern des Dilemmas liegt weniger im Inhalt der Papiere als in ihrem institutionellen Kontext. Ein Höchstgericht, das unter dem Druck eines libertären Präsidenten und einer skeptischen Öffentlichkeit plötzlich den Keller auskehrt, betreibt nicht nur Archivkunde, sondern Selbstrechtfertigung. Franz Neumann bezeichnete das Behemoth-Prinzip des Nationalsozialismus als eine Allianz von Staat, Partei und Kapital. Argentiniens Nachkriegsgeschichte zeigt, wie leicht sich solche Allianzen exportieren lassen, wenn die Destination ein Land ist, das europäische Moderne als Rohstoff für eigene Modernisierungshoffnungen importierte.
Juan Peróns berüchtigtes »Plan Andinia« existierte zwar nie, doch sein Einwanderungsprogramm für »technisch qualifizierte Europäer« war realpolitischer Magnet für Kriegsverbrecher. Uki Goñi hat beschrieben, wie die vatikanisch-argentinische »Rattenlinie« über Genua und Madrid nach Buenos Aires führte, finanziert von Schweizer Konten und stillschweigender Duldung der Alliierten. Die in Talcahuano gefundenen Hefte tragen nun den Abrieb dieser Netze auf jeder brüchigen Seite – Namen, Nummern, Postleitzahlen der deutschen Kolonie Argentiniens, Zeugnisse eines Alltagsfaschismus.
Wie viel Neues offenbaren 4.600 Arbeitsfront-Ausweise tatsächlich? Der Kölner Historiker Holger Meding dämpft die Erwartungen: Vielleicht ließen sich soziale Profile, Mitgliedsgebühren oder sogar Netzwerkdiagramme rekonstruieren, doch die Grundstruktur der Nazi-Präsenz sei seit den Untersuchungen der 1941er Kommission bekannt, zitiert Reuters den Historiker. Gleichwohl hängt an jedem Detail die Möglichkeit der Revision. Dialektisch gewendet: In Zeiten, da Geschichtsbilder in sozialen Medien zirkulieren wie Meme, erhält das nüchterne Dokument denselben Fetischstatus wie das Selfie – wobei hier das Trägermaterial Pergamin statt Pixel ist.
Derweil schreitet das Höchstgericht mit Masken, Haarnetzen und UV-Lampen zur Digitalisierung. Mehr als 4.600 rote Hefte wurden bereits inventarisiert, rund 400 schwarze Carnets der Unión Alemana de Gremios folgen. Noch ist unklar, ob die Datensätze offen einsehbar sein werden oder in juristischer Quarantäne verharren. Hannah Arendt hätte vermutlich lakonisch angemerkt, dass Transparenz ohne Urteil die Bühne der Banalität bleibt: reine Verwaltung, kein öffentliches Denken.
Denn das heikle Wort »Kontinuität« schwebt über der Debatte. Wer heute fragt, wie 1941er Propagandahefte in einem Gerichtskeller überdauern konnten, muss auch fragen, wie Richter, Polizei-Offiziere oder Staatsanwälte der Nachkriegszeit, oft aus denselben sozialen Milieus, die Spruchpraxis der Diktatur von 1976–83 mitgestalteten. Insofern ist das Keller-Narrativ eine Miniatur der argentinischen Gedächtnispolitik: Wegschließen, bis der Mörtel bröckelt; öffnen, wenn das Wegschließen selbst skandalträchtig wird; die Sache an Spezialisten delegieren; dann wieder Ruhe.
Präsident Milei, der rasende Liberale, stellt sich derweil als Hüter der Aktenfreiheit dar. Doch sein Regierungssprecher verknüpft die Freigabe mit der These, Argentinien müsse »international zeigen, dass es mit der Vergangenheit aufräumt«. In dieser doppelten Regie – Exponate polieren, Image pflegen – liegt eine Marketinglogik, die dem Erinnerungsprozess leicht ein Preisschild anhängt. Walter Benjamin warnte, jeder Sieg der Herrschenden schreibe die Kulturdenkmäler als Triumphzeichen um; die Aufgabe der Historiker sei, den Funken der Hoffnung zu entzünden, der im Staub der Besiegten liegt.
So starren wir auf rote Hefte und sehen rote Linien. Sie führen von der Plaza de Mayo, wo nationalistische Studenten 1938 »Deutschland Erwache!« riefen, über die Garnison von Campo de Mayo, in der Videla Offiziere im Anti-Kommunismus drillte, bis in jene Kiez-Kellerräume, in denen Antisemiten heute Neonazi-Aufkleber drucken. Die Archive sprechen, aber sie sprechen leise – und nur, wenn man ihre Sprache lernt.
Ob die 83 Kisten nun aus Tokio kamen oder aus einer Razzia an der Calle Alsina, mag für den Juristen Detail, für den Historiker Indiz, für die Politik jedoch Metapher sein. Denn in beiden Fällen sah der argentinische Staat genauer hin – und schaute dann weg. Jetzt, da das Neonlicht der Scanner durch die brüchigen Seiten fährt, zeigt sich, was Adorno die »Unfähigkeit zu trauern« nannte: das Werk ist nicht abgeschlossen, die Akten sind erst der Auftakt.
Bleibt die Frage, welches Publikum die künftige Dauerausstellung im geplanten Gerichts-Museum finden wird. Womöglich dasselbe, das im Holocaust-Museum zwischen Hitler-Büste und menschlichem Schädelausmessgerät Selfies schießt. Vielleicht aber auch jene Generation, die begreift, dass eine Demokratie ihre Archive nicht für die Ewigkeit bauen kann, ohne die dort verwahrten Konflikte immer wieder öffentlich zu verhandeln. Am Ende entscheidet, wie Benjamin schrieb, »jedes noch so kleine Faktum« darüber, ob Geschichte als Warnung oder als Ware endet.
Während ich dies schreibe, surren die Entfeuchter im Keller des Tribunal. Kartons werden in säurefreie Mappen gelegt, Buchrücken mit Reispapier geschient. Es ist handwerkliche, beinahe zärtliche Arbeit – ein leiser Widerhall dessen, was Theodor W. Adorno einst als »Minima Moralia« der Erinnerung forderte: das beschädigte Leben ernst nehmen in seinen Fragmenten. Vielleicht beginnt Geschichtsaufarbeitung genau hier, im vorsichtigen Umblättern eines roten Heftes, dessen Seiten sich noch immer widersetzen – wie Pergament, das nicht vergessen will.
Literaturverzeichnis (APA 7)
Adorno, T. W. (1951/2005). Minima moralia: Reflections on a damaged life (E. F. N. Jephcott, Trans.). Verso. (Original work published 1951)
Benjamin, W. (1940/1968). Theses on the philosophy of history. In H. Arendt (Ed.), Illuminations (H. Zohn, Trans., pp. 253–264). Schocken. (Original essay written 1940)
Corte Suprema de Justicia de la Nación. (2025, 11. Mai). Comunicado de prensa: Hallazgo de documentación histórica [Pressemitteilung]. https://www.csjn.gov.ar/
Foucault, M. (1969/1972). The archaeology of knowledge (A. M. Sheridan Smith, Trans.). Pantheon. (Original work published 1969)
Goñi, U. (2002). The real Odessa: How Perón brought the Nazi war criminals to Argentina. Granta Books.
La Prensa. (1941, 23. Juni). Propaganda nazi incautada en la Aduana [Zeitungsartikel], S. 3.
La Prensa. (1941, 24. Juli). Miles de libretas incautadas en redadas contra organizaciones nazis [Zeitungsartikel], S. 5.
Miller, L. (2025, 15. Juli). A Nazi document trove raises questions for Argentina. Reuters. https://www.reuters.com/world/americas/nazi-document-trove-raises-questions-argentina-2025-07-15/
Mutti, J. (2025). La procedencia de las libretas nazis halladas en la Corte Suprema. Revista de Historia Argentina, 12(2), 45–60.
Neumann, F. L. (1942). Behemoth: The structure and practice of National Socialism, 1933–1944. Oxford University Press.