Markt im Kopf, Armut im Land. Das Phantom der sozialen Marktwirtschaft. Von Holger Elias
Die Aktentasche des Kapitals klappert wieder lauter als die Brotdose des Kindes. Während sich BMW-Aktionäre am Münchner Olympiapark Champagner auf die Dividende gießen, wartet ein paar U-Bahn-Stationen weiter ein Neunjähriger darauf, dass die Suppenküche auf- statt zusperrt. »Sozialstaat«, murmeln die Einen und stochern in ihren Renditetabellen; »Eigenverantwortung«, schwadronieren die Anderen und betrachten die Furchen in fremden Gesichtern wie Geländeaufnahmen entlegener Kontinente. Die Republik, stolz auf ihre Tarifverträge und schwäbische Sparsamkeit, schiebt den Kinderwagen der Armut den Konjunktur-Boulevard hinunter und wundert sich, dass er an den Luxus-Boutiquen nicht kleben bleibt.

Seit die Trümmerfrauen die Buchstaben des Grundgesetzes vom Stein klopften, begleitet uns eine Melodie in Dur: Die soziale Marktwirtschaft sei jene zauberhafte Synthese, in der das metallische Pochen der Profitmaschine von weichem Sozial-Filz gedämpft werde. Ludwig Erhard, Zigarrenrauch aus dem Mundwinkel, versprach »Wohlstand für alle« – und die fetten Jahre gaben eine halbe Generation lang vor, das Echo stimme. Doch schon Adorno warnte, dass der Wohlstand mehr »Versöhnungsrhetorik« als reale Befreiung sein könne. Wer heute die Daten sortiert, hört das dissonante Nachspiel: Sechs von zehn Euros Nettovermögen liegen in den Tresoren des obersten Zehntels (Bundeszentrale für politische Bildung: Sozialbericht 2024 – Vermögensungleichheit, 2024); die Lohnquote säuft ab wie ein rostiges Handelsschiff, während Kapitaleinkünfte im Hochglanz-Katamaran vorbeiziehen (Hans-Böckler-Stiftung: Kapital gewinnt, Arbeit verliert (WSI-Impuls 2024). Und die Kommunen melden Rekorddefizite, weil ihre Sozialhaushalte die Armutsflut nicht länger stauen können (SPIEGEL online: Kommunen melden Rekorddefizit wegen hoher Sozialausgaben, 21. 04. 2025).
Man hat uns beigebracht, diese Zahlen als »Begleiterscheinungen« zu lesen, wie man einen leichten Nebel am Morgen hinnimmt: lästig, aber vorübergehend. Doch Nebel verzieht sich normalerweise, wenn die Sonne steigt. Hier aber scheint die Sonne nur auf den Golfplatz, während Brandwolken über den Mietskasernen hängen bleiben. Der Mythos vom gezähmten Kapitalismus funktioniert wie eine schlechte Eheberatung: Man rät den Betroffenen zur Gelassenheit und verschweigt, dass der Partner handfeste Gewaltfantasien pflegt.
Ein Blick zurück, um vorwärts zu begreifen. Als 1928 in Berlin die Börsenfieberträume noch glühten, kommentierte Kurt Tucholsky in der »Weltbühne«, die Demokratie sei »ein Luxusliner, auf dessen Ballsaal das Orchester spielt, während im Maschinenraum die Heizer revoltieren«. Wenige Monate später stürzten die Kurse und die Weimarer Kulisse erwies sich als dünne Theaterwand. Heute, knapp hundert Jahre später, hält sich das Publikum wieder an Fassaden fest, die beim ersten Windstoß splittern. Der Maschinenraum heißt diesmal »Finanzmarkt«, und die Heizer sind Algorithmen, denen das Wahlrecht ziemlich gleichgültig ist.
Griechenland 2015 war ein Menetekel: Ein Volk stimmte gegen Austerität, die Eurogruppe stimmte anders – und hatte das bessere Kredit-Rating. Die Demokratie, schrieb Nancy Fraser, geriet unter »akkumulativen Vorrang«, also unter eine Leitwährung, deren Kurs nicht durch Wahlurnen bestimmt wird, sondern durch Bloomberg-Terminals. Seither hängt über jedem Kabinettstisch ein unsichtbares Hinweisschild: »Bitte nur Beschlüsse fassen, die den Renditeerwartungen nicht widersprechen.«
Folgerichtig mutiert der Sozialstaat zum Reparaturbetrieb – nicht für Verletzte, sondern für die Maschine selbst. Bürgergeld-Sanktionen disziplinieren jene, die ihre Arbeitskraft gerade nicht mehrbietend verkaufen können, und die Pflegeversicherung wird zum halbherzigen Crowd-Funding, bei dem Töchter in Doppelschichten ihre Mütter waschen, damit die Dividendenkonten der Pflegekonzerne nicht einrosten. Der Staat feuert die Binde, wähnt sich Notarzt und trägt doch nur die Beatmungsschläuche, während der Patient zur Organbank des Kapitals wird.
Der moralische Lack, der dieses Getriebe glänzen lässt, heißt »Leistungsgerechtigkeit«. Angeblich wird entlohnt, wer sich anstrengt. Doch wer ernsthaft glaubt, ein Hedgefonds-Manager, dessen Bonus sich aus Zins- und Spekulationsgewinnen speist, hätte mehr geschwitzt als die Pflegerin, die in der Nachtschicht Inkontinenz-Windeln wechselt, der hat das Wort »Leistung« verdachtsfrei in den Mund genommen. Meritokratie, spottet der Politökonom Thomas Piketty, sei die »Religion der Sieger«, die nur so lange Predigt hält, wie die Mikrofone des Publikums abgeschaltet sind.
Nun mögen Skeptiker einwenden, Kritik sei leicht, Alternativen schwer. Doch der Hinweis ist abgestanden wie Kantinenkaffee. Kooperativen im Baskenland, Gemeinwohlbilanzen in Tirol, der Alaska Permanent Fund: Überall existieren Inseln, in denen Rendite zwar möglich, aber dem Gemeinwohl untergeordnet ist. Sie beweisen nicht, dass ein ganzer Ozean ohne Haie befahrbar wäre – aber sie zeigen, dass man Haie aus Buchhaltungssicht nicht zur Grundbedingung jeden Schwimmens erklären muss.
Wie also weiter? Der liberal-konservative Reflex ruft nach mehr »Wettbewerb«, nach weniger »Bürokratie«, nach dem »Tiergeist« des Unternehmers. Doch dieses Tier hat längst gelernt, im Ventilationsschacht der Steuerpolitik zu nisten: Es verlässt die Stube, sobald jemand nach Vermögensabgaben fragt, und kehrt nur zurück, wenn Subventionen den Napf füllen. Ein Staat, der darin bloß den Nachtportier für Hochfinanz-Durchreisende gibt, signalisiert der Demokratie den Bereitschaftsdienst: Immer auf Abruf, immer beurlaubt, wenn es ernst wird.
Foucault hat die neoliberale Wende als »Verhaltensökonomisierung« des Menschen beschrieben: Jeder wird zum Mini-Unternehmer seiner selbst, muss Rendite auf seinen Bildungstitel, seine Gesundheit, seine Paarbeziehung erwirtschaften. Diese Logik sickert durch die Ritzen des Alltags, macht den Klinik-Aufenthalt zur Investition, die Wohnungssuche zur Portfolio-Optimierung und die Familienplanung zum Kredit-Rating. Wer hier ausfällt – Krankheit, Pech, Herkunft – fällt nicht nur ökonomisch, sondern moralisch. Die Disziplinarmaßnahme heißt Scham.
Doch eine Demokratie, die Scham institutionalisiert, wankt. Denn ihre Legitimität schöpft sie aus dem Versprechen, dass jede Stimme gleich wiege, unabhängig vom Inhalt des Portemonnaies. Wenn aber der Slogan »Politik muss finanzierbar sein« chronisch über der Debatte schwebt, entscheidet das Vermögen über das Sagbare. Hannah Arendt erinnerte daran, dass Freiheit mehr sei als Wahlfreiheit zwischen Konsumgütern – Freiheit heißt, gemeinsam zu bestimmen, was als Güter überhaupt zählt.
Gewiss, manche Reformpfade liegen auf dem Tisch: progressive Steuern, Abschöpfung von Krisengewinnen, Vermögensabgabe für Multimillionäre, Ausbau öffentlicher Infrastruktur. Doch all dies greift, so lange Eigentumstitel unantastbar sind, immer nur ex post zu – wie ein Putztrupp, der die auslaufende Maschine wischt, nicht aber den Konstruktionsfehler behebt. Wer nachhaltige Gerechtigkeit will, muss an die Produktionsverhältnisse, nicht bloß an deren Rasur.
Der Eigentumskritik haftet in Deutschland der Geruch des Unerlaubten an, Artefakt Kalter-Krieg-Didaktik. Doch Eigentum hat, wie Wolfgang Streeck betont, seine sakralisierte Aura erst in dem Moment entfaltet, als man es gegenüber demokratischem Zugriff immunisierte. Bis dahin war »Eigentum verpflichtet« nicht nur Verfassungspoesie, sondern Handlungsmaxime: Von Bodenreform über Gemeindewerk bis Mitbestimmung.
Dass heute ein Konzern in NRW den Wasserpreis kalkulieren darf, während die Kommune die Leitungen wartet, zeigt, wie Imperative sich verkehren: Vom Gemeingut zum Geschäftsmodell und zurück zur kommunal garantierten Rendite. Die politische Kunst bestünde darin, diese Kette umzudrehen – nicht den Markt abzuschaffen, sondern ihn dorthin zu verweisen, wo er als Werkzeug dient, nicht als Zweck.
»Systembruch« – das Wort polarisiert wie einst die Frage nach Hosen für Frauen. Doch Bruch heißt nicht notwendig Ruin, sondern kann Öffnung bedeuten. Die Elektrizitätswerke Schönau begannen als Widerstandsgeste gegen Atomstrom und sind heute Vorreiter dezentraler Energieversorgung. Mondragón wuchs aus einer Pfarrwerkstatt zu einem Genossenschaftskonglomerat mit 80 000 Beschäftigten. Beispiele sind keine Blaupausen, aber sie widerlegen die Behauptung, die Eigentumsfrage sei ein museales Stück.
Vielleicht liegt der Schlüssel nicht in einem neuen »Masterplan«, sondern im entschlossenen Bündel kleiner Aneignungen: Mietshäuser-Syndikate, Bürgerräte über kommunale Budgets, Divestment-Kampagnen, Plattform-Kooperativen. Sie schieben den Zeiger von »Haben« zu »Teilen«, ohne erst Formalrevolutionen zu bemühen. Doch damit sie mehr sind als Abenteuer-Kapitel im Wirtschaftsteil progressiver Wochenzeitungen, braucht es staatliche Rückversicherung: Kreditgarantien, Steuerprivilegien, Vorrang bei öffentlicher Auftragsvergabe. So wird aus dem Staat kein Leviathan der Umverteilung, sondern Architekt demokratischer Produktionsformen.
Adornos Diktum, es gebe kein richtiges Leben im falschen, wird gerne als Nihilismus missbraucht. Er meinte: Das Richtige muss das Falsche stets in sich reflektieren – also wissen, dass es bedroht bleibt. Eine Ökonomie, die Gemeinwohl an erste Stelle setzt, wird die Versuchung des Profits nicht endgültig bannen. Aber sie kann die demokratische Souveränität stärken, indem sie Eigentum entprivilegiert und Teilhabe verrechtlicht.
Bleibt die Frage des Übergangs. Kapitalflucht, Schuldenmärkte, geopolitischer Konkurrenzdruck – sie alle lauern an der Schwelle. Doch auch das Business-as-usual ist nicht risikofrei: Klimakrise, Demografie, Digital-Oligopole. Die Wahl lautet nicht Stabilität versus Bruch, sondern welches Wagnis wir tragen wollen. Die Habenseite eines Gemeinwohl-Pfades lässt sich in Euro taxieren – weniger Armutsfolgekosten, resilientere Infrastrukturen – und in nicht-monetären Gütern wie Würde und politischer Kohäsion. Die Sollseite einer fortgesetzten Kapitallogik hingegen schreibt Kosten auf, die sich in verbrannte Hektar, überlastete Pflegesysteme und entleerte Innenstädte übersetzen.
Zum Schluss ein Bild: Die Demokratie ist ein Marktplatz im ursprünglichen Sinn – ein offener Ort, an dem Bürger:innen nicht bloß kaufen, sondern reden, streiten, entscheiden. Der Kapitalismus jedoch hat den Platz eingezäunt, Mautstationen errichtet und Zutritt nach Bonität sortiert. Wer Gerechtigkeit will, muss den Zaun öffnen oder die Maut abschaffen; wer beides unterlässt, begeht Selbstverrat an der Idee der gleichen Freiheit.
Vielleicht ist es zu spät, vielleicht zu früh. Aber gewiss ist: Solange der Markt als Fetisch verehrt wird, bleibt der Mensch Kulisse. Die Wahl steht an, jeden Tag, in jedem Haushaltsausschuss, an jedem Gartenzaun, in jedem Tarifkampf. Wählen wir das Schönwetterversprechen, wird der Sturm uns wählen.
Quellen (Auswahl)
Bundeszentrale für politische Bildung: Sozialbericht 2024 – Vermögensungleichheit (2024)
Statistisches Bundesamt: Pressemitteilung PD24-N033 (29. 07. 2024)
SPIEGEL online: Kommunen melden Rekorddefizit wegen hoher Sozialausgaben (21. 04. 2025)
Hans-Böckler-Stiftung: Kapital gewinnt, Arbeit verliert (WSI-Impuls 2024)