Schweitzer: »Kann nicht anders formulieren«

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Ein Mann sitzt in einem Fernsehstudio und weiß nicht, wie ihm geschieht. Er redet, als wolle er nicht gehört werden. Er formuliert, als müssten seine Sätze durch einen Parteitagskompromiss, einen Koalitionsausschuss und ein Veto der CSU gleichzeitig. Er ist Bundesvize der SPD. Sein Name: Alexander Schweitzer. Die Kulisse: »Markus Lanz«, ZDF, 9. Juli 2025. Die Rolle: Statist im Stück über die Selbstauflösung einer Partei, die einmal soziale Gerechtigkeit buchstabieren konnte.

Was dieser Abend offenbarte, war nicht nur die politische Überrumpelung der SPD durch die CSU – durch Markus Söder, der inzwischen ganze Koalitionsausschüsse wie Schachbretter behandelt. Es war vor allem die entwaffnende Unfähigkeit der Sozialdemokratie, ihre eigene Rolle im Regierungsspiel zu benennen. Alexander Schweitzer verteidigte nicht, er erklärte nicht, er resignierte. Man hatte den Eindruck, er war eingeladen worden, um ein Versäumnis zu bezeugen.

Der zentrale Konflikt: Die Mütterrente wird vorgezogen, die versprochene Senkung der Stromsteuer für alle bleibt aus. Ein klarer Wortbruch. Dokumentiert im Koalitionsvertrag, in den Wahlprogrammen, in zahllosen öffentlichen Reden. Stattdessen: ein Geschenk an eine Klientel, die nicht zur prekären Mehrheit zählt, sondern zu jenen Rentnerinnen, die überdurchschnittliche Bezüge erhalten. 20 Euro mehr, die den wirklich Bedürftigen sofort wieder von der Grundsicherung abgezogen werden. Ein Armutszeugnis in jeder Hinsicht. Und ein politisches Signal: Nicht ihr seid gemeint. Ihr seid nur noch Kulisse.

Schweitzer nennt das »ein Anzeichen für bayerische Politik«. Eine Formulierung, wie sie symptomatischer nicht sein könnte. Sie entlarvt die SPD nicht als machtlos, sondern als machtvergessen. Dass Markus Söder sich durchsetzt, liegt nicht nur an seiner Chuzpe, sondern an der freiwilligen Preisgabe jeder Gegenmacht. Die SPD hat ihre strategische Funktion verloren – sie agiert, als müsse sie sich für ihre Existenz in der Regierung bedanken.

Dabei wäre das alles nicht neu. Seit der Ära Schröder arbeitet die SPD systematisch an ihrer Selbstverkleinerung. Mit Hartz IV entkoppelte sie sich vom Sozialen. Mit der Agenda 2010 predigte sie neoliberale Leistungsrhetorik, als wäre sie ein Thinktank der Wirtschaftsliberalen. Die Erosion der Stammwählerschaft wurde zur bewussten Modernisierungsstrategie verklärt – man wollte nicht mehr Partei der kleinen Leute sein, sondern der vermeintlich produktiven Mitte. Seitdem ist die Sozialdemokratie eine Partei im Entfremdungszustand – von ihrer Geschichte, ihren Werten, ihrer Klientel.

Während Söder also die Mütterrente durchdrückt und Friedrich Merz sich treiben lässt, laviert die SPD zwischen symbolischer Zustimmung und faktischer Selbstaufgabe. Die rhetorischen Figuren Schweitzers – »Ich war nicht dabei«, »Ich kann das nicht beantworten«, »Ich hatte den Eindruck« – markieren nicht nur individuelle Schwäche, sondern kollektives Sprachversagen. Es ist die Sprache der Entleerung: kein Subjekt, kein Adressat, keine Verantwortung. Nur noch Passivkonstruktionen und Gefühlsschatten.

Diese Sprachlosigkeit ist kein Zufall. Sie folgt der Entpolitisierung der SPD, die nach Jahren der Großen Koalition und der Ampelregierung verlernt hat, Opposition zu denken – auch in Regierungsverantwortung. Der Konsens, die Einheit, das Vermeiden von Konflikten sind zum Selbstzweck geworden. Wer sich querstellt, gefährdet den Koalitionsfrieden. Also wird nicht mehr gestritten, sondern verwaltet. Es ist der Triumph des Moderierens über das Gestalten.

Doch was moderiert wird, ist längst ein anderer Diskurs. Die Bürgergelddebatte, wie sie in der Sendung anschließt, ist Ausdruck davon. Die SPD übernimmt das Framing der Rechten: von »Leistungsbetrug«, »faulen Bürgergeldbeziehern«, »mafiösen Strukturen«. Man wähnt sich in der Sendung nicht in einem sozialdemokratischen, sondern in einem Talkshow-Tribunal. Schweitzer gibt sich Mühe, differenziert zu argumentieren, aber er beugt sich rhetorisch dem Vorwurf: Ja, man habe da etwas verschlafen. Ja, man müsse härter durchgreifen. Ja, man habe die Missbrauchsfälle nicht ernst genug genommen. Die Agenda: Repression statt Reform.

Was hier sichtbar wird, ist ein ideologischer Bruch. Die SPD redet nicht mehr aus dem Blickwinkel der unteren 50 Prozent, sondern über sie. Die einstige Arbeiterpartei spricht wie ein staatliches Organ über ihre Klientel, nicht mehr mit ihr. Die Menschen, um die es geht, sind abwesend – auch im Vokabular. Statt von Rechten, Würde und Beteiligung ist von Kontrolle, Erwartung und Anspruch die Rede. Die Sprache ist nicht mehr solidarisch, sondern prüfend.

Dass Söder in dieser Konstellation dominiert, ist kein politisches Wunder, sondern logische Folge eines Vakuums. Er besetzt das Feld, weil die anderen es räumen. Er diktiert die Prioritäten – Gastrosteuer, Pendlerpauschale, Agrarsubventionen, Mütterrente – und alle spielen mit. Merz nickt, weil er sich keine innerparteiliche Blöße geben will. Die SPD schweigt, weil sie glaubt, sie müsse beweisen, dass sie regierungsfähig ist. Doch sie verwechselt Regierungsfähigkeit mit Selbstverleugnung.

Es ist das alte Trauma: Ernst genommen wird die SPD nur, wenn sie ununterscheidbar wird. Wenn sie sich anpasst, einknickt, abwägt. Wenn sie wie ein CDU-Beiboot wirkt, das freundlicherweise mit am Tisch sitzen darf. Alexander Schweitzers Auftritt bei Lanz war das Sinnbild dieser Entwicklung. Es war keine Verteidigung sozialdemokratischer Politik – es war der performative Beweis, dass es sie nicht mehr gibt.

Vielleicht ist es zu spät. Vielleicht ist die Erosion der SPD so weit fortgeschritten, dass selbst wohlmeinende Parteifreunde sich auf eine Zukunft als drittstärkste Kraft einrichten. Der Verlust an Milieus, an Sprache, an Haltung ist nicht über Nacht entstanden. Er ist das Ergebnis jahrelanger Kapitulation – vor der neoliberalen Logik, vor der Angst, anzuecken, vor der Sehnsucht, endlich wieder regieren zu dürfen.

Doch es bleibt eine Frage: Was will eine Partei, die alles mitträgt, alles erklärt, aber nichts mehr behauptet? Die weder streitet noch kämpft, sondern moderiert, duldet, begleitet? Die Antwort liegt nicht in den Talkshows, nicht in den Koalitionsverträgen, nicht im Bürgergeldparagrafen. Sie liegt in der politischen Vorstellungskraft. Und davon hat die SPD, wie es scheint, nicht mehr viel.

Wenn das Volk sich nicht mehr vertreten fühlt, dann liegt es nicht immer nur am Volk. Manchmal liegt es an jenen, die aufgehört haben, Volk zu denken. Schweitzer, der von »Erwartungshaltungen« und »Eindrücken« spricht, ist in dieser Hinsicht kein Ausreißer. Er ist das Symptom einer Partei, die ihre eigene Geschichte nicht mehr erinnert und ihre Zukunft nur noch verwaltet.

Was bleibt, ist ein Satz aus der Sendung, mit dem Schweitzer sich selbst entlarvt: »Ich kann nicht anders formulieren.«

Doch genau das müsste er. Und seine Partei erst recht.

About the author

Holger Elias

Studien der Journalistik und Kommunikations-Psychologie. War beruflich als Korrespondent und Redakteur bei Nachrichtenagenturen (reuters, cna usw.), für überregionale Tageszeitungen sowie für Rundfunk und Fernsehen tätig. Lebte und arbeitete knapp acht Jahre als EU-Korrespondent in Brüssel. Als Verleger und Publizist gab er knapp 140 Buchtitel heraus.

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