Dossier: Reichsbürger – nicht nur Spinner

D
1. Die Szene in Zahlen – Eskalation in Zeitlupe

“Das Personenpotenzial im Phänomenbereich „Reichsbürger und Selbstverwalter“ lag im Jahr 2023 bei rund 23.000 Personen. Davon gelten etwa 2.000 als gewaltorientiert.”

Eine Szene, die sich seit Jahren konsolidiert: Obgleich die Zahl gewaltorientierter Personen im Vergleich zur Gesamtmenge gering erscheint, zeigt die Dynamik eine besorgniserregende Entwicklung. In ihrer Verweigerung staatlicher Legitimität liegt ein tiefer Angriff auf das gesellschaftliche Fundament.

Anmerkung: Der Verfassungsschutz tendiert zum Zahlenglaube. Doch relevante Gefahr entsteht nicht erst bei Massenerhebungen, sondern dort, wo Gewaltbereitschaft auf ideologische Selbstermächtigung trifft.

2. Ideologie: Zwischen Esoterik, Antisemitismus und Gewalt

“In Teilen der Szene sind antisemitische Weltbilder – insbesondere in Form von Stereotypen über eine vermeintliche jüdische Weltherrschaft – tief verwurzelt.”

Die ideologische DNA ist ein toxischer Mix: Antisemitismus, Verschwörungswahn, NS-Verherrlichung, gepaart mit spirituell-esoterischem Habitus. Diese Mischform erschwert die Entschlüsselung des ideologischen Kerns und schafft Anschlussfähigkeit für die bürgerliche Mitte.

Anmerkung: Der Bericht bleibt in der Beschreibung oft vage. Eine benennende Klarheit wäre wünschenswert: Antisemitismus ist keine “Weltbildkomponente”, sondern menschenverachtender Kernbestand.

3. Reichsbürger als Waffenbesitzer

“Die Szene zeigt eine Affinität zu Schusswaffen, insbesondere über Jäger- und Sportschützenkreise.”

Ein explosives Gemisch: Waffenaffinität, Militärerfahrung, Staatsverachtung. Der Verfassungsschutzbericht benennt nicht ohne Grund die konkrete Gefahr für Kommunalpolitiker, Gerichtsvollzieher, Polizist:innen.

Anmerkung: Dass tausende Reichsbürger weiterhin legal Waffen besitzen, zeigt ein strukturelles Kontrollversagen. Waffengesetze prüfen Besitz, nicht Gesinnung.

4. Vom Putschfantasma zur realen Bedrohung

“Die Zerschlagung der Gruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß hat gezeigt, dass es sich nicht nur um Spinner oder Querulanten handelt.”

Ein Netzwerk aus Ex-Soldaten, Richtern, Polizisten, Preppern, Unternehmern – und ein Prinz als Symbolfigur. Der versuchte Umsturz mag operativ dilettantisch gewesen sein, die ideologische Sprengkraft aber bleibt.

Anmerkung: Der Bericht verweist zurecht auf den Paradigmenwechsel: Nicht mehr die “Einzeltäter” stehen im Fokus, sondern gruppenbasierte Strukturen mit Umsturzphantasien.

5. Digitale Radikalisierung

“Reichsbürger nutzen vermehrt soziale Netzwerke […] um Feindbilder zu schärfen.”

Telegram ist das neue Wohnzimmer für radikale Narrative. Hier entsteht eine Gegenöffentlichkeit, in der Desinformation nicht nur verbreitet, sondern geglaubt wird. Das staatliche Gewaltmonopol wird zur bösartigen “Firma BRD” uminterpretiert.

Anmerkung: Die Öffentlichkeit unterschätzt oft die Eigendynamik solcher Echokammern. Längst ist das kein Stammtischersatz mehr, sondern ein Rekrutierungsinstrument.

6. Juristische Sabotage

“Eine Vielzahl der Anhänger versucht […] durch sogenannte „Selbstverwaltungs-Erklärungen“ und die Ablehnung von Gerichtsurteilen, den Rechtsstaat zu unterminieren.”

Staatsverweigerung hat Methode. Mit massenhaft eingereichten Schriftsätzen, absurden “Amtsverzichten” und “Verfassungserklärungen” wird die Verwaltung lahmgelegt und Justiz beschäftigt.

Anmerkung: Die Behörden müssen sich nicht nur gegen Waffen, sondern gegen ein digitales und juristisches Dauerfeuer rüsten.

7. Schnittstellen zur AfD

“Vereinzelt gibt es personelle Überschneidungen mit Mitgliedern der AfD.”

Hier laviert der Bericht. Was als “vereinzelte” Überschneidungen beschrieben wird, zeigt in der Praxis strategische Schnittmengen: Rhetorik des “Systems”, Ablehnung des Parlamentarismus, Delegitimierung demokratischer Institutionen.

Anmerkung: Wenn sich Reichsbürger und Teile der AfD in der Systemfrage einig sind, ist der Unterschied einer der Mittel, nicht des Ziels.

Fazit: Die Gefahr ist real, nicht folkloristisch

Reichsbürger sind nicht die lustigen Kaiserreich-Fans mit Goldrandurkunden. Es sind Verfassungsfeinde mit Waffen, Ideologie und einem diffusen Netz aus Online-Militanz, Offline-Strategie und juristischer Sabotage. Der Verfassungsschutzbericht benennt vieles, bleibt aber in der Tiefe vorsichtig. Eine offene Demokratie aber braucht eine offene Sprache gegen ihre Gegner.

Empfohlene Gegenstrategien:

  • Entwaffnung aller bekannten Reichsbürger
  • Monitoring von Plattformen wie Telegram durch zivilgesellschaftliche Watchdogs
  • politische Bildung über demokratiefeindliche Ideologien in Verwaltungen und Schulen
  • Benennung von ideologischen Schnittmengen in Parteien ohne Beschönigung

“Verharmlosung ist Beihilfe. Und Beihilfe zur Demokratiezersetzung ist keine Meinung.”

About the author

Holger Elias

Studien der Journalistik und Kommunikations-Psychologie. War beruflich als Korrespondent und Redakteur bei Nachrichtenagenturen (reuters, cna usw.), für überregionale Tageszeitungen sowie für Rundfunk und Fernsehen tätig. Lebte und arbeitete knapp acht Jahre als EU-Korrespondent in Brüssel. Als Verleger und Publizist gab er knapp 140 Buchtitel heraus.

By Holger Elias

Neueste Beiträge

Archive

Get in touch