Über Sicherheit, Sprache und strukturelle Machtmechanismen in der deutschen Medienlandschaft.
Im Juni des Jahres 2025, mitten im Brodeln einer polykrisenhaften Republik, präsentiert das Bundesamt für Verfassungsschutz seinen alljährlichen Bericht. Was früher ein Verwaltungsakt war, ist heute ein dramaturgisch inszenierter Höhepunkt im politischen Kalender – begleitet von Talkshows, Schlagzeilen und Regierungserklärungen. Und wie jedes Jahr rauschen die Kommentare der Redaktionen durchs Land wie das Echo einer Glocke, die niemand schlagen musste, weil sich ihr Pendel längst von allein bewegt.
Dies ist ein Essay über jene Kommentare. Und über das, was sie nicht sagen – über das, was sie sagen sollen. Über den Rahmen, in dem sie sagen dürfen. Und über ein Modell, das hilft, all das zu verstehen: das Propagandamodell von Edward S. Herman und Noam Chomsky.
I.
Wer verstehen will, wie sich eine liberale Öffentlichkeit in einen ideologisch formatierten Resonanzraum verwandelt, muss sich mit Struktur befassen, nicht nur mit Meinung. Das Propagandamodell geht davon aus, dass Medien in kapitalistischen Demokratien nicht trotz, sondern wegen ihrer Pressefreiheit eine wesentliche Funktion erfüllen: Sie erzeugen Konsens – nicht durch Zwang, sondern durch Struktur.
Fünf Filter bestimmen laut Herman und Chomsky, was als veröffentlichungswürdig gilt:
- Medienbesitz – Wer besitzt die Presse? Wem dienen ihre wirtschaftlichen Interessen?
- Werbefinanzierung – Wer bezahlt den Betrieb? Welche Themen garantieren Anzeigen, welche gefährden sie?
- Nachrichtenquellen – Wer liefert die Informationen, die dann »neutral« verbreitet werden?
- Flak – Wer sorgt für Disziplinierung, wenn Journalisten ausscheren?
- Feindbilder – Welche ideologischen Raster bestimmen, wer gut und wer böse ist?
Diese Filter wirken nicht als Zensurbehörde. Sie sind eingebaut in den Apparat. In Redaktionen, in Ausbildungsgängen, in Routinen. Und vor allem: in Sprache.
II.
Der aktuelle Verfassungsschutzbericht verzeichnet einen Anstieg rechtsextremer Bestände, steigende Radikalisierung, die übliche Reihung: Islamismus, Linksextremismus, Auslandsgefahren. Die Kommentare aus Frankfurter Rundschau, Süddeutscher Zeitung, Neue Osnabrücker Zeitung, Straubinger Tagblatt und anderen übernehmen das Narrativ in variierender Tonlage, aber weitgehend ungebrochen.
Was auffällt, ist der sprachliche Duktus. Er ist nicht sachlich, sondern alarmistisch; nicht analytisch, sondern symbolisch aufgeladen. Begriffe wie „wuchern“, „explodieren“, „Horrordiagnose“, „verlorene Mitte“ dominieren. Die Metaphorik ist organisch-pathologisch – sie spricht von Infektion, Mutation, Eindringen, Zusammenbruch. Der Extremismus wird nicht als Resultat gesellschaftlicher Prozesse begriffen, sondern als schattenhafte Bedrohung, als metastasierender Tumor.
Solche Sprache ist kein Zufall. Sie ist performativ. Sie erzeugt, was sie beschreibt: das Gefühl der Bedrohung, die Notwendigkeit der Abwehr. Und sie entpolitisiert das Politische, indem sie es als Naturkatastrophe stilisiert.
III.
Die wiederkehrende Figur der Kommentare ist die angeblich bedrohte Mitte. Der Extremismus – insbesondere von rechts – „dringt in die Mitte“, „verkleidet sich als bürgerlich“, „verliert sein Randdasein“. Dabei bleibt völlig unklar, was diese Mitte eigentlich ist – außer einem Sehnsuchtsort des Status quo.
Die politische Funktion dieser Mitte ist klar: Sie ist der Legitimationsraum des Bestehenden. Wer die Mitte ist, gehört zur Demokratie. Wer außerhalb dieser imaginierten Mitte agiert – egal ob auf der Straße oder im Parlament –, wird wahlweise als „Rand“ oder „Gefahr“ klassifiziert. So entsteht ein binäres Weltbild: Stabilität hier, Bedrohung dort.
Die Ironie dabei: Die Realität, die etwa nd.DerTag beschreibt – nämlich dass rechte Hegemonie zunehmend im staatsnahen Raum verankert ist –, wird nicht negiert, sondern rhetorisch neutralisiert. Der Faschismus der Zukunft, so ließe sich zuspitzen, wird nicht in Springerstiefeln marschieren, sondern im Anzug Verwaltung betreiben. Doch wer das ausspricht, bekommt Flak – medial, politisch, sozial.
IV.
Besonders perfide ist die semantische Gleichsetzung divergenter politischer Phänomene. In fast allen Kommentaren erscheinen Linksextremismus, Islamismus und Rechtsextremismus in einem Atemzug. Zwar wird oft betont, dass „Rechts“ die größere Bedrohung sei – doch sprachlich und symbolisch werden alle drei als gleichartig gefährlich codiert.
Diese Gleichsetzung ist kein journalistischer Zufall, sondern ein ideologisches Werkzeug. Sie entzieht linken Bewegungen ihre politische Rationalität, indem sie ihre Systemkritik in das Raster des Destruktiven einordnet. Wer Kapitalismuskritik äußert, ist gefährlich. Wer strukturelle Ungleichheit thematisiert, ist radikal. Wer den Nahostkrieg kritisiert, ist antisemitisch.
Diese Strategie beschreibt das Propagandamodell als ideologische Filterfunktion. Früher war es der Antikommunismus, heute ist es der Glaube an Markt, NATO, liberale Ordnung. Wer ihn teilt, darf sprechen. Wer ihn hinterfragt, wird „beobachtet“.
V.
„Flak“, so nennen Herman und Chomsky die Reaktionen, mit denen kritische Berichterstattung diszipliniert wird. Es ist kein Zufall, dass der Kommentar der linken Tageszeitung nd.DerTag explizit die Legitimität des Verfassungsschutzes in Frage stellt – und damit allein auf weiter Flur steht.
Während die anderen Medien sich auf systemkonforme Kritik beschränken („mehr Personal“, „bessere Prävention“, „stärkere Abwehrkräfte“), fordert nd.DerTag die Abschaffung einer Behörde, die ihrer Meinung nach nicht schützt, sondern diskreditiert. Der Preis für diese Klarheit ist hoch: Marginalisierung, Vorwurf der Einseitigkeit, der „Antiamerikanismus“, der „Verharmlosung“.
Doch genau solche Gegenöffentlichkeit ist notwendig – nicht, weil sie die Wahrheit gepachtet hat, sondern weil sie das Meinungsspektrum erweitert, das laut Propagandamodell in den Mainstreammedien auf den Horizont der Eliten beschränkt bleibt.
VI.
Fast vollständig abwesend in den Kommentaren ist eine ernsthafte Analyse der Ursachen von Radikalisierung. Stattdessen: Appelle an „Medienkompetenz“, „Wertevermittlung“, „Beratungsangebote“. Die Gesellschaft soll immunisiert werden – gegen wen? Gegen sich selbst?
Der Verdacht liegt nahe: Wer über steigende extremistische Einstellungen berichtet, ohne soziale Entwurzelung, politische Entfremdung, ökonomische Perspektivlosigkeit zu thematisieren, muss sich den Vorwurf machen lassen, Teil des Problems zu sein. Nicht aus bösem Willen, sondern aus struktureller Blindheit.
Denn eine radikale Wahrheit bleibt ungesagt: Vielleicht ist die Demokratie selbst in der Krise, nicht wegen, sondern trotz ihrer Verteidiger.
VII.
Herman und Chomsky haben ihr Modell in den 1980ern entwickelt. Doch seine Relevanz ist heute größer denn je. Die Konvergenz von Sicherheitsdiskurs, medialem Alarmismus und ökonomischer Interessenlage hat eine Öffentlichkeit geschaffen, in der Kritik geduldet, aber entwaffnet, in der Dissens zugelassen, aber zersetzt wird.
Der Extremismusdiskurs ist dabei ein besonders wirksames Instrument: Er erscheint notwendig, weil es reale Gefahren gibt. Doch er wird gefährlich, wenn er selbst zum Werkzeug der Repression wird.
Die Aufgabe kritischer Öffentlichkeit – und damit auch des Journalismus – ist es nicht, Sicherheit zu schaffen. Sondern Wahrheit. Und die Wahrheit ist selten sicher.
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Primärquelle
1. Herman, Edward S.; Chomsky, Noam (1988):
Manufacturing Consent: The Political Economy of the Mass Media.
New York: Pantheon Books.
→ Analysegrundlage des Propagandamodells; insbesondere Kapitel 1: „A Propaganda Model“.
Analysierte Kommentare und Artikel (Juni 2025)
2. Frankfurter Rundschau (10.06.2025, 17:38):
„Wuchernder Extremismus“, Kommentarredaktion.
→ Inhaltlich analysiert bzgl. Metaphorik und Emotionalisierung.
3. nd.DerTag / nd.DieWoche (10.06.2025, 16:55):
„Die problematische Rolle des Verfassungsschutzes“, Kommentar.
→ Beispiel für gegenhegemoniale Kommentierung, kritische Quellenanalyse.
4. Straubinger Tagblatt (10.06.2025, 16:18):
„Verfassungsschutzbericht: Abwehrkräfte junger Menschen gegen Extremisten stärken“.
→ Enthält typische Immunmetaphern und Kausalitätsverkürzungen.
5. Neue Osnabrücker Zeitung (10.06.2025):
Kommentar zum Verfassungsschutzbericht 2024, nicht namentlich gezeichnet.
→ Analyse zentraler Alarmismusbegriffe, insbesondere „Kurve nach oben“.
6. Süddeutsche Zeitung (10.06.2025):
„Was folgt aus dieser Horrordiagnose?“
→ Kritik an staatlicher Untätigkeit im Rahmen offizieller Sicherheitsrhetorik.
7. Märkische Oderzeitung (10.06.2025):
„Die Krise europäischer Demokratien und Populismus“.
→ Passivierungsrhetorik, strukturelle Ursachen werden verkürzt.
Weitere Referenzen & Kontextquellen
8. Chomsky, Noam (2002):
Media Control. The Spectacular Achievements of Propaganda.
New York: Seven Stories Press.
→ Komplementäre Perspektive zum Propagandamodell, besonders zur Medienpsychologie.
9. Lutz, Tom (Hg.) (2019):
Propaganda: A Historical Encyclopedia.
Santa Barbara: ABC-Clio.
→ Kontext zur Begriffsgeschichte und modernen Erscheinungsformen von Propaganda.
10. Uwe Krüger (2016):
Mainstream – Warum wir den Medien nicht mehr trauen.
München: C.H. Beck.
→ Journalismuskritische Analyse für den deutschsprachigen Raum, mit Bezug zum Propagandamodell.
11. Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND), Bundesinnenministerium (BfV):
Verfassungsschutzbericht 2024.
→ Offizielles Dokument, Grundlage der kommentierten Debatte. Zugriff: [bmi.bund.de] (nicht öffentlich archiviert).