Recht als Waffe – oder als Schutzschild?

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Über Recht als Disziplinierungsinstrument, die Dialektik von Öffentlichkeit und Macht – und den stillen Rückzug der Demokratie in Zeiten ökonomischer Hegemonie

Von Holger Elias

Es war einmal ein Versprechen, das der Demokratie innewohnte: Dass jeder das Recht habe, das Wort zu ergreifen. Dass Kritik nicht unter Verdacht steht, sondern zur Pflicht mündiger Bürger zählt. Dass Öffentlichkeit ein Raum des Widerspruchs ist – nicht der Gefälligkeit.

Heute, im Jahr 2025, gerät dieses Versprechen ins Wanken. Nicht durch Putsch, nicht durch Panzer. Sondern durch Schriftsätze.

Die Bedrohung trägt einen bürokratisch klingenden Namen: SLAPP. Das Kürzel steht für Strategic Lawsuits Against Public Participation – strategische Klagen gegen öffentliche Teilhabe. Es sind juristische Mittel, eingesetzt mit politischer Absicht. Der Unterschied zur klassischen Zensur besteht in der Eleganz des Vorgehens: Die Peitsche wird durch die Klageschrift ersetzt, die Mauer durch Gerichtskosten, das Schweigen durch Prozessangst.

SLAPP-Klagen sind die neue Grammatik der Macht: Wer protestiert, riskiert ruinöse Kosten. Wer Missstände benennt, sieht sich mit Schadensersatzforderungen in Millionenhöhe konfrontiert. Und wer – wie Greenpeace – den Mut hat, sich der Logik des fossilen Kapitals entgegenzustellen, muss damit rechnen, von einem texanischen Energieunternehmen nicht widerlegt, sondern zerlegt zu werden. Auf dem Papier. In Gerichtsakten. Im Namen des Gesetzes.

Der Fall als Menetekel: Greenpeace vs. Energy Transfer

Der Schauplatz ist North Dakota, USA. Dort, wo einst die Proteste der Standing Rock Sioux gegen die Dakota Access Pipeline weltweite Aufmerksamkeit erregten, steht nun die Frage im Raum, ob Protest selbst zum Schadensfall erklärt werden kann.

Greenpeace hatte sich 2016 offen mit den indigenen Gruppen solidarisiert, Mahnwachen organisiert, juristische Hilfe vermittelt, Öffentlichkeit hergestellt. Keine Gewalt, kein Vandalismus, kein Aufruf zu Straftaten. Und doch klagte der Pipeline-Betreiber Energy Transfer 2017 – wegen „ökonomischer Sabotage“ und „Verleumdung“. Die Vorwürfe: Greenpeace habe durch gezielte Kampagnen Investoren abgeschreckt, den Unternehmensruf beschädigt, den Bau behindert.

Im März 2025 folgte das Urteil: Schadensersatz in Höhe von über 660 Millionen US-Dollar. Ein ökonomisches Todesurteil, so es Bestand haben sollte.

Kristin Casper, Chefjuristin von Greenpeace International, erklärte:

„Diese Klage ist ein klarer Versuch, uns zum Schweigen zu bringen. Aber wir werden nicht aufgeben. Wir werden alle rechtlichen Mittel ausschöpfen, um dieses ungerechte Urteil anzufechten.“

Was hier zur Disposition steht, ist nicht nur der Handlungsspielraum einer NGO. Es ist das Prinzip selbst, dass Öffentlichkeit Kontrolle ausüben darf – und soll. Die Klage ist kein Einzelfall, sondern Teil eines repressiven Musters. Und sie ist ein Beleg dafür, wie Macht sich durch formale Legalität immunisiert.

Recht als Dienstleistung der Interessen – nicht der Gerechtigkeit

Die Gewalt solcher Klagen liegt nicht in ihrem juristischen Gehalt, sondern in ihrer Wirkung. Denn das Ziel ist nicht der Beweis – sondern die Belastung. Nicht das Gewinnen – sondern das Schweigenmachen. SLAPP-Klagen sind eine ökonomisch abgesicherte Form der Verdrängung von Kritik. Wer sie betreibt, will keine Verhandlung, sondern Kapitulation. Man kann sagen: Der Gerichtssaal ersetzt den Pranger, nur dass diesmal die Kritiker hängen.

In der Theorie steht das Recht über dem Geld. In der Praxis kauft sich das Kapital längst seine Unangreifbarkeit. Gerichte werden zu Verhandlungsorten ökonomischer Interessen. Nicht mehr das gesellschaftliche Argument zählt, sondern die Zahlungsfähigkeit. Nicht mehr die Fakten, sondern die Durchhaltefähigkeit im Instanzenweg.

Der Übergang von Demokratie zur „Postdemokratie“ – wie Colin Crouch ihn nannte – vollzieht sich nicht durch die Aussetzung der Wahlen, sondern durch die Ausschaltung der Öffentlichkeit als kritischer Instanz. SLAPP-Klagen sind ein Symptom dieser Transformation. Sie markieren den Punkt, an dem Legalität und Legitimität auseinanderfallen.

Was heute als „strategische Klage“ daherkommt, ist in seinem inneren Impuls nicht neu. Der juristische Versuch, unliebsame Meinungen mundtot zu machen, kennt viele Gewänder: In der Ära des McCarthyismus in den Vereinigten Staaten waren es Kongressausschüsse, die Intellektuelle, Filmschaffende und Gewerkschafter unter dem Vorwand der Kommunistenjagd zur Strecke brachten. Damals hieß es nicht „SLAPP“, sondern „subversive activities“ – das Ergebnis war dasselbe: beruflicher Ruin, gesellschaftliche Ächtung, psychologische Zermürbung.

In jüngerer Zeit machte der Ölkonzern ExxonMobil Schlagzeilen, als er Journalisten und Umweltgruppen verklagte, weil sie behauptet hatten, Exxon habe über Jahrzehnte hinweg die Risiken des Klimawandels verschleiert. Auch hier wurde nicht die Wahrheit gesucht, sondern die Botschaft sanktioniert. Die Anklageschrift diente als Einschüchterungswerkzeug – nicht als Instrument der Aufklärung.

In Russland werden kritische Journalist:innen mit Paragraphen zum „Extremismus“ überzogen, in Ungarn mit Lizenzentzug, in Indien mit Steuerprüfungen. Der Westen rühmte sich lange, von solchen Methoden verschont zu sein – zu Unrecht. Die Form hat sich verändert, nicht die Funktion.

SLAPP-Klagen sind die neoliberale Spielart autoritärer Kontrolle: gerichtlich, finanziell, formal korrekt – und doch demokratiezersetzend. Sie erlauben es Mächtigen, auf zivilgesellschaftlichen Widerspruch nicht argumentativ, sondern mit Übermacht zu reagieren. Die Klageschrift ersetzt den Diskurs. Das Kapital ersetzt den Souverän.

Angesichts dieser Entwicklung ist die EU-Richtlinie 2024/1069 ein Hoffnungsschimmer – wenn auch ein schwacher. Sie sieht vor, offensichtlich missbräuchliche Klagen frühzeitig abzuweisen, Kläger zur Kostenübernahme zu verpflichten und den Schutz von Journalisten, Aktivist:innen und NGOs zu verbessern. Vor allem aber enthält sie eine extraterritoriale Komponente: EU-Mitgliedsstaaten dürfen Urteile aus Drittstaaten – etwa den USA – ignorieren, wenn diese offenkundig rechtsmissbräuchlich sind.

Doch Papier ist geduldig. Und die Mitgliedsstaaten sind es auch. Denn bis heute hat kaum ein EU-Land die Richtlinie in nationales Recht umgesetzt – auch Deutschland nicht. Die Bundesregierung spricht von „Prüfprozessen“, während Kläger längst aktiv sind. Es ist ein institutionelles Versäumnis mit systemischer Dimension: Der Staat schützt zwar die Form der Meinungsfreiheit, nicht aber ihre Praxis.

Die Richtlinie wäre ein Instrument des Schutzes – wenn man es denn benutzen wollte.

Greenpeace hat begriffen, dass der Gerichtssaal nicht nur ein Ort der Niederlage, sondern auch der Verteidigung sein kann. Im Februar 2025 reichte die Organisation eine Gegenklage gegen Energy Transfer beim Bezirksgericht in Den Haag ein. Der Vorwurf: missbräuchliche Prozessführung, wirtschaftliche Einschüchterung, Verstoß gegen europäische Grundrechte.

Zum ersten Mal wird die EU-Richtlinie als Basis einer Gegenoffensive verwendet. Greenpeace fordert nicht nur Schadensersatz, sondern rechtliche Klärung: Soll europäischer Boden künftig auch ein Schutzraum für die öffentliche Debatte sein – oder bleibt er bloß ein symbolisches Gelände?

Ein positiver Ausgang dieses Verfahrens wäre mehr als ein juristischer Etappensieg. Er wäre ein politisches Signal: Dass Europa seine Zivilgesellschaft nicht kampflos den Rechtsabteilungen transatlantischer Konzerne überlässt.

Deutschland im Nebel des Fortschritts

Und Deutschland? Beobachtet, moderiert, analysiert – aber handelt nicht. Obwohl Studien – etwa jene der Otto-Brenner-Stiftung – eindrücklich belegen, dass auch hierzulande Journalist:innen, Blogger:innen, Whistleblower und NGO-Vertreter:innen von Einschüchterungsklagen betroffen sind. Besonders im kommunalen Bereich häufen sich Fälle, in denen Bauunternehmer, Politiker oder Konzerne gegen kritische Berichterstattung vorgehen. Der Unterschied zur USA ist oft nur der Maßstab – nicht das Muster.

Statt gesetzlicher Klarheit bietet Berlin ein diffuses Versprechen, irgendwann tätig zu werden. Die Worte sind da – aber das Gesetz fehlt. Und so bleibt die öffentliche Meinung rechtlich entblößt: angreifbar, überlastet, allein.

Es wäre naiv zu glauben, SLAPP-Klagen seien bloß ein Nebenschauplatz juristischer Scharmützel. Sie sind ein Symptom für ein tieferliegendes Problem: die schleichende Entkernung öffentlicher Diskursräume unter Bedingungen ökonomischer Dominanz.

In einer Gesellschaft, in der Pressefreiheit an Medienkonzentration krankt, NGOs unter Spendenverdacht stehen und kritische Stimmen mit Klagedrohungen rechnen müssen, verliert die Öffentlichkeit ihre Funktion als Korrektiv. Die Debatte wird zur Dekoration, das Recht zur Renditefrage. Der Preis für Wahrheit ist nicht nur Mut – sondern oft auch ein siebenstelliger Betrag.

Die SLAPP-Klage ist somit der stille Putsch des Kapitals gegen die Demokratie – geführt nicht mit Waffen, sondern mit dem Stempel eines Gerichts. Und das macht sie so gefährlich: weil sie sich tarnt. Weil sie legal ist. Weil sie sich einfügt in die Geschäftsordnung eines Systems, das sich längst dem Primat des Marktes unterworfen hat.

Es bleibt ein bitterer Nachsatz: Wer heute das Wort erhebt, riskiert morgen eine Klage. Nicht, weil er Unrecht sagt – sondern weil sein Recht unbequem ist. Die Demokratie stirbt nicht im Ausnahmezustand. Sie stirbt in Formularen. In Vertagungen. In juristischer Routine.

Die Aufgabe der Stunde besteht nicht darin, SLAPP-Klagen zu bedauern. Sondern sie zu verhindern. Durch klare Gesetze. Durch politische Haltung. Und durch eine Zivilgesellschaft, die nicht mehr schweigt, nur weil sie verklagt werden könnte.

Denn wer das Recht auf Kritik verliert, verliert mehr als eine Stimme. Er verliert seine Bürgerlichkeit.

Quellen und Hinweise:

  • Colin Crouch: Postdemokratie. Suhrkamp, 2008.
  • Otto-Brenner-Stiftung: SLAPP in Deutschland – Eine empirische Bestandsaufnahme. OBS-Studie 2025.
  • Kristin Casper (Greenpeace): Presseerklärung vom 15. März 2025.
  • Legal Tribune Online (2025): 660 Millionen Dollar – Das Urteil gegen Greenpeace.
  • Time Magazine (2024): Exxon vs. Journalism: How Lawsuits Threaten Free Speech.
  • Europäische Union: Richtlinie (EU) 2024/1069 über den Schutz öffentlicher Beteiligung vor missbräuchlichen Klagen.

About the author

Holger Elias

Studien der Journalistik und Kommunikations-Psychologie. War beruflich als Korrespondent und Redakteur bei Nachrichtenagenturen (reuters, cna usw.), für überregionale Tageszeitungen sowie für Rundfunk und Fernsehen tätig. Lebte und arbeitete knapp acht Jahre als EU-Korrespondent in Brüssel. Als Verleger und Publizist gab er knapp 140 Buchtitel heraus.

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