Im Deutschen Bundestag wird gestritten, gelegentlich geschrien, mitunter geschnauft – und ab und an auch gedacht. Es ist der Ort, an dem Politik ihre ritualisierte Form erhält, das Theater der Demokratie, in dem nicht nur Entscheidungen gefällt, sondern auch Bedeutungen produziert werden. Am 5. Juni 2025 jedoch wurde nicht über Gaza gestritten, sondern über einen Pullover.
Cansin Köktürk, neu gewählte Abgeordnete der Partei Die Linke, erschien zur Regierungsbefragung in einem Kleidungsstück, das auf der Brust ein einziges Wort trug: Palestine. Keine Aufschrift mit Zusatz. Kein »Free«. Kein »Intifada«. Nur der Name eines Volkes, das von der westlichen Welt seit Jahrzehnten mit Hilfeverweigerung, Doppelmoral und völkerrechtlicher Rhetorik marginalisiert wird.
Was folgte, war kein Wortgefecht, sondern ein Ordnungsruf in anderer Tonart. Bundestagspräsidentin Julia Klöckner unterbrach die Sitzung, erklärte das Shirt zur »Störung der Ordnung« und verwies Köktürk des Saales. Nicht, weil sie gesprochen hätte – sondern weil sie nicht schwieg.
In jüngster Vergangenheit und in der Gegenwart wird mit zunehmender moralischer Aufladung über Symbole gestritten und das Politische selbst gerät unter die Räder. Das Tragen eines Wortes, eines Ortes, einer Identität auf einem Kleidungsstück – es genügt, um als Störfall zu gelten. Der Vorfall wirft eine doppelte Frage auf: Wer entscheidet im Parlament, was gesagt werden darf? Und: Ab wann ist schon das Nichtgesagte ein Skandal?
Volker Beck, früherer Grünen-Abgeordneter und heutiger Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, erinnerte via X daran, dass im Parlament das Argument zähle, nicht die Kleidung. Doch genau das Argument – in Rede, Wort und Stimme – wurde durch den Ordnungsakt unmöglich gemacht. Die Rede Köktürks, die womöglich auf Waffenexporte, Völkerrecht und die moralische Blindstelle der Bundesregierung eingegangen wäre, wurde unterbunden. Stattdessen debattiert man seither über Textilien.
Es ist eine bittere Ironie: Wer Palästina auf dem Shirt trägt, wird des Raumes der Debatte verwiesen – unter dem Vorwand, es müsse im Parlament mit Worten gestritten werden. Wer hingegen das Wort führen will, wird daran gehindert, weil er zuvor ein Kleidungsstück getragen hat. Die Logik dieser Argumentation ähnelt der eines Beamten, der einem Demonstranten die Trillerpfeife verbietet, weil Protest bitteschön lautlos zu erfolgen habe.
»Würde des Hauses« heißt die Formel, mit der Julia Klöckner ihre Maßnahme rechtfertigte – ein Begriff, der durch seine Unschärfe so handlich ist, dass er sich für alles Mögliche instrumentalisieren lässt: von Baskenmützen über Palästinensertücher bis zu provokanten Fragen. Wer die Würde definiert, besitzt Definitionsmacht über das Sagbare. Und wer Definitionsmacht über das Sagbare hat, hat Macht über die Demokratie selbst.
Die Suspendierung Köktürks aus dem Plenum ist kein Einzelfall, sondern Ausdruck eines autoritären Driftens im Umgang mit unbequemer Symbolik. Die semantische Kontrolle über Sprache, Auftreten und sogar Kleidung wird zum Herrschaftsinstrument. Dabei ist längst nicht das Shirt das Problem, sondern das, was es im deutschen Parlament verkörpert: die Erinnerung an einen Konflikt, den man hierzulande lieber nur unter israelischer Flagge diskutiert.
So wird das Parlament, dieser theoretisch agonale Ort demokratischer Streitkultur, zum hygienischen Vorführraum, in dem nicht mehr gestritten, sondern kuratiert wird. Die Parlamentsdebatte wird zur Veranstaltung mit Kleiderordnung. Wer sie verletzt, gefährdet – so heißt es – die Würde. In Wahrheit gefährdet er die Illusion des einheitlichen Konsenses.
Doch was bleibt von einer Demokratie, in der die Aufschrift Palestine als störend empfunden wird, während Waffen in genau jene Region geliefert werden, deren Existenzbenennung hier zur Provokation erklärt wird? Was bleibt von einem Parlament, das lieber schweigt, als zuzuhören? Und was bleibt von einer Öffentlichkeit, die über Pullis streitet, statt über Palästina?
Die Debatte um das Kleidungsstück der Abgeordneten Köktürk ist keine Randnotiz parlamentarischer Etikette. Sie ist ein Lackmustest für die demokratische Reife einer Institution, die sich gern als Hort des freien Wortes gibt – solange dieses Wort nicht Palestine heißt.
Vom Gummiparagraf zur selektiven Disziplinierung
Die »Würde des Hauses« – kaum ein Begriff ist so oft beschworen und zugleich so leer wie dieser. Was sie bedeutet, wie sie verletzt wird und wer über ihre Wahrung entscheidet, bleibt im deutschen Parlamentsbetrieb einer Interpretation überlassen, die weniger an objektive Maßstäbe als an politische Opportunitäten gebunden ist. Im § 38 der Geschäftsordnung des Bundestags heißt es vage, dass ein Abgeordneter »bei Verletzung der Ordnung oder der Würde des Bundestages« ausgeschlossen werden kann. Die Hausordnung formuliert ähnlich wolkig: Störungen der Tätigkeit des Bundestages seien zu unterlassen. Kein Paragraph definiert, was als Störung oder Unwürdigkeit zu gelten hat. Dafür aber ist klar geregelt, wer bestimmt, ob eine Störung vorliegt: die Bundestagspräsidentin.
Was bedeutet das konkret? Im Fall Köktürk genügte ein Schriftzug auf der Kleidung, um die parlamentarische Ordnung verletzt zu sehen. Nicht ein Ruf, kein Zwischenruf, keine Blockade, kein tätlicher Angriff, kein Protestplakat. Ein Wort – »Palestine« – und Klöckner schritt ein. Doch derselbe Bundestag duldete über Jahre hinweg Abgeordnete mit Anstecknadeln der israelischen Flagge, zeigte keinerlei Sanktionen gegen Nationalfarben der Ukraine in Wortbeiträgen, oder gegen Abgeordnete, die mit offenem Bekenntnis zur Bundeswehruniform auftraten. Das Bild ist klar: Nicht das Prinzip wird durchgesetzt – sondern das, was dem politischen Geschmack des Präsidiums entspricht.
Die Berufung auf die »Würde des Hauses« ist so alt wie ihre politische Funktion. Schon in der Weimarer Republik wurde das Konzept bemüht, um Sozialisten, Kommunisten und »radikale Elemente« aus den Debatten zu halten. Die Parlamentsgeschichte der Bundesrepublik kennt ähnliche Episoden – ob in den achtziger Jahren beim Protest gegen den NATO-Doppelbeschluss oder bei den Reden gegen Hartz IV. Immer dann, wenn Dissens nicht mehr im Rahmen des Sagbaren erscheinen soll, wird die Würde zur Waffe. Sie ist kein ethisches Ideal, sondern ein pragmatischer Hebel.
Auch dass Klöckner ohne Ordnungsruf agierte, ist Teil dieser symbolpolitischen Strategie: Keine rüde Disziplinierung, sondern höflich inszenierte Exklusion. Eine stille Sanktion, die das Erscheinungsbild wahrt, aber die Wirkung entfaltet, als sei ein Gesetz gebrochen worden. In Wahrheit handelt es sich um eine Auslegungssache – und Auslegungen sind, das weiß jede Juristin, Machtfragen.
Wer einmal begonnen hat, in Kleidung politische Absichten zu wittern, wird bald auch das Revers kontrollieren müssen. Der AfD-Abgeordnete Torben Braga konnte unbehelligt eine Kornblume tragen – ein historisches Symbol mit klarer NS-Konnotation. Warum? Weil es klein war? Weil es unauffällig blieb? Oder weil die Empörung darüber nicht in den Aufmerksamkeitskalkül des Präsidiums passte?
Auch Volker Beck – der öffentlich gegen das »Palestine«-Shirt wetterte – trug in früheren Jahren eine Anstecknadel aus deutscher und israelischer Flagge, ohne damit den Ordnungsdienst auf den Plan zu rufen. Der Unterschied zwischen einer »Störung« und einem »Zeichen der Haltung« ist offenbar: Es kommt nicht auf das Symbol, sondern auf den Inhalt an. Palästina stört – Israel adelt. Die Würde des Hauses wird selektiv kodiert.
Wenn die »Würde des Hauses« nicht als Schutzformel, sondern als politische Projektionsfläche dient, geraten die Maßstäbe ins Rutschen. Was heute als Regel gilt, kann morgen als Ausnahme erklärt werden. Der Grundsatz der Gleichbehandlung, eigentlich konstitutiv für die Rechtsstaatlichkeit des Parlamentarismus, wird zur Nebensache. Wer symbolisch für Palästina eintritt, wird gemaßregelt. Wer dasselbe für Israel tut, wird mit Zustimmung bedacht – oder wenigstens übersehen.
Damit verwandelt sich das Parlament in einen semantisch kontrollierten Raum, in dem die Grenzen des Sagbaren und Sichtbaren nicht durch das Recht, sondern durch politische Opportunität definiert werden. Diese Entwicklung steht in eklatantem Widerspruch zu der parlamentarischen Idee, wie sie in den Lehrbüchern steht: ein Ort freier Rede, gleichberechtigter Debatte und offenem Dissens. Wenn aber selbst das stumme Tragen eines Wortes zur Regelverletzung erklärt wird, dann wird aus der Würde des Hauses ein Maulkorb mit gut gebügeltem Revers.
Wenn die Kleidung zur Debatte wird – und die Debatte zur Kulisse
Im demokratischen Idealbild ist das Parlament der Ort der Vernunft, des diskursiven Ringens, der klugen Rede. In der politischen Wirklichkeit jedoch verkommt es zunehmend zur Bühne symbolpolitischer Ersatzhandlungen, auf der mehr mit Zeichen als mit Begriffen gestritten wird. Der Fall Köktürk illustriert diese Entwicklung exemplarisch: Nicht der Inhalt ihrer Rede, sondern das Textil auf ihrer Brust wurde zum Gegenstand der Aufregung. Nicht das, was sie sagte – sondern das, was sie trug, war zu viel.
Diese Umkehrung ist kein Zufall, sondern Symptom eines parlamentarischen Betriebs, der sich mehr um Form als um Substanz sorgt. Wo früher das Argument zählte, regiert heute der Dresscode. Die Inszenierung ersetzt die Auseinandersetzung. Die Kleidung wird zur Sprache – und weil man die Sprache nicht hören will, wird die Kleidung geächtet.
Julia Klöckner vollzieht mit ihrer Disziplinierungspolitik eine Verschiebung der parlamentarischen Aufmerksamkeitsökonomie: Statt den Fokus auf Inhalte, Konflikte und politisch-moralische Dilemmata zu richten, wird die Debatte ins Ästhetische verlagert – ins Sichtbare, ins scheinbar Nebensächliche. Kleidung wird zum Politikum, nicht weil sie es sein muss, sondern weil man auf der symbolischen Ebene leichter reagieren kann als auf der inhaltlichen.
Diese Praxis infantilisiert das Parlament – und mit ihm die Öffentlichkeit. Denn die Logik dahinter ähnelt der eines strengen Elternteils, das das Kind nicht wegen seiner Frage tadelt, sondern wegen seiner Haltung. Die Suggestion: Du magst vielleicht etwas Wichtiges zu sagen haben – aber nicht in diesem Ton, nicht mit dieser Kleidung, nicht hier. So wird politische Mündigkeit in Verhaltensregeln aufgelöst.
Dass Klöckner sich nicht auf Diskussionen über Gaza, Völkerrecht oder Waffenexporte einließ, sondern die Debatte mit Verweis auf einen Dressverstoß beendete, ist bezeichnend. Ihre Rolle ist nicht die der Moderation, sondern die der Kuratierung. Was sichtbar wird, darf nur sichtbar werden, wenn es ins orchestrierte Gesamtbild passt. Wer aus dem Bild fällt, wird ausgeblendet.
Dies ist nicht nur eine politische Entscheidung, sondern auch eine mediale Kalkulation. Die Eskalation durch Symbolpolitik erzeugt Schlagzeilen, Likes, Empörung – allesamt harte Währungen im politischen Betrieb. Das »Palestine«-Shirt wurde nicht durch Köktürk zum Skandal, sondern durch Klöckners Reaktion. Die politische Geste, an sich marginal, wurde durch ihre Repression medial aufgeladen. Was hätte folgen können – eine inhaltliche Positionierung zur Lage im Gazastreifen, eine kluge Kritik an der deutschen Doppelmoral – wurde durch die mediale Erregungskaskade verhindert.
In diesem Sinne liegt eine doppelte Verantwortung vor: Die eine bei jenen, die aus Kleidung Politik machen – die andere bei jenen, die aus Politik Kleiderfragen konstruieren. Beide bedienen ein Spiel, das vom eigentlichen Inhalt ablenkt. Lotte Laloire, Kolumnistin bei der taz, nannte dieses Schauspiel ein »langweiliges Provokations-Game« – und traf damit den Kern. Die Pose ersetzt die Politik, die Empörung die Argumentation, die Regel das Gespräch.
Dass Köktürk sich dennoch öffentlich äußerte, via X und Instagram, ist nur folgerichtig. Wenn im Parlament das Wort entzogen wird, verlagert sich der Diskurs dorthin, wo er noch stattfinden darf. Das ist kein Zeichen von Respektlosigkeit gegenüber dem Parlament, sondern von dessen strukturellem Versagen, alternative Stimmen zuzulassen.
Und doch ist es eine gefährliche Entwicklung: Denn wenn das Parlament sich selbst auf eine Bühne symbolpolitischer Repression reduziert, verliert es nicht nur an Ernsthaftigkeit – es verliert seine Autorität. Die Ordnung, die es verteidigen will, wird zur Fassade. Und hinter dieser Fassade: nichts als gepflegte Langeweile und strategische Sprachvermeidung.
Vom Nichtnennen zum Unsichtbarmachen
Es gibt Begriffe, die tragen eine Geschichte in sich – eine Last, ein Leiden, eine Hoffnung. »Palestine« ist ein solcher Begriff. Er verweist auf einen geografischen Raum und zugleich auf ein kollektives Trauma. Auf Staatslosigkeit, auf Enteignung, auf Hoffnungslosigkeit. Und auf den hartnäckigen Wunsch nach Sichtbarkeit in einer Welt, die sich an den Namen gewöhnt hat, ohne sich für das Leben dahinter zu interessieren.
In Deutschland jedoch wird »Palästina« nicht als humanitäres Anliegen verhandelt, sondern als Störfall. Es ist ein Begriff, der misstrauisch macht – ein semantisches Risiko. Wer ihn in den Mund nimmt oder auf einem Shirt trägt, gerät in Verdacht: der Verharmlosung der Hamas, des Antisemitismus, der israelbezogenen Doppelmoral. Das reicht, um die Person aus dem Diskurs zu entfernen, und wenn nötig – aus dem Plenarsaal.
Cansin Köktürk hat genau das erlebt. Ihre parlamentarische Existenz steht – politisch und medial – unter Generalverdacht. Nicht, weil sie Gewalt legitimiert. Nicht, weil sie radikale Parolen ruft. Sondern weil sie beharrlich auf einen Konflikt hinweist, den die deutsche Politik lieber in der dritten Person Singular verhandelt: als außenpolitisches Problem. Als moralischen Stolperstein. Als Schattenthema, das die Klarheit der eigenen Werte stört.
Dabei ist Köktürk kein unbeschriebenes Blatt. Sie ist Sozialarbeiterin, hat Flüchtlingsunterkünfte geleitet, ist Autorin eines Buches, das sich radikal humanistisch nennt. Ihre politische Biografie ist geprägt vom Bruch mit ideologischen Dogmen – sie verließ sowohl die Linke (wegen Wagenknecht) als auch die Grünen (wegen Lützerath). Ihre Rückkehr zur Linken steht unter dem Vorzeichen einer personalisierten Empörungspolitik: gegen das Wegsehen, gegen das Verschweigen, gegen das Glätten von Konflikten.
Wer sich mit ihrer Vita befasst, erkennt darin nicht eine »radikale Aktivistin«, sondern eine Frau, die ein aufgeladenes Thema öffentlich halten will – gegen den Sog der Relativierung. Ihr Statement richtet sich nicht gegen Israel, sondern gegen das Schweigen. Es ist ein Appell an das Mitgefühl, nicht an den Terror. Aber in einem politischen Klima, das den Begriff »Palästina« reflexartig mit Feindbildern verknüpft, ist solche Differenzierung irrelevant.
Denn Palästina ist der blinde Fleck der deutschen Demokratie. Nicht, weil es keine Berichte über Gaza gibt. Sondern weil diese Berichte selten strukturell gedacht, nie systematisch verhandelt und fast nie in der politischen Praxis berücksichtigt werden. Die humanitäre Katastrophe in Gaza – selbst vom Internationalen Gerichtshof zur Kenntnis genommen – findet in der deutschen Debatte nur statt, wenn sie im Schatten der Hamas-Kritik bleibt.
Das hat Methode. Die politische Semantik erlaubt es, Mitleid zu zeigen, solange man es mit Distanzierung kombiniert. Wer also »Free Palestine« ruft, muss hinzufügen: »Aber wir verurteilen den Terror der Hamas.« Wer eine Keffiyeh trägt, muss erklären, dass sie keine Gewalt bedeutet. Wer auf einem Shirt »Palestine« schreibt, soll möglichst versichern, dass er Israel nicht in Frage stellt. Andernfalls droht der Vorwurf des »delegitimierenden Antisemitismus« – ein Begriff, so dehnbar wie gefährlich.
Diese diskursive Schieflage führt zu einer tiefen demokratischen Scham: Man weiß um die Verbrechen, wagt aber keine Position. Man spricht von »Selbstverteidigung«, wo der Einsatz von Phosphorbomben gemeint ist. Man spricht von »Komplexität«, wo eigentlich kollektive Strafen herrschen. Man delegiert Verantwortung nach Den Haag – und meidet die Debatte in Berlin.
Köktürks provokative Geste war daher keine »Störung der Ordnung«, sondern der Versuch, einen Diskurs zu erzwingen, der andernfalls ausgeblendet würde. Ihre Botschaft richtete sich nicht primär an das Plenum – sondern an jene Menschen in Deutschland, die sich seit dem 7. Oktober 2023 permanent zwischen Schuldabwehr und Selbstzensur bewegen. Ihre Kleidung war weniger ein Zeichen als eine Frage: Seht ihr uns noch?
Dass Klöckner darauf mit Ausschluss reagierte, zeigt: Die Antwort lautet Nein. Sichtbarkeit ist hier keine demokratische Währung, sondern eine Zumutung. Und genau das macht den Begriff »Palästina« so unbequem: Er erinnert an die Unfertigkeit des Westens, an die moralische Halbherzigkeit deutscher Politik – und an die Tatsache, dass Empörung selektiv bleibt.
Von der Dienerin des Hauses zur Disziplinarin der Debatte
Wer das Parlament moderiert, formt auch dessen Kultur. Die Rolle des Bundestagspräsidenten war in der Geschichte der Bundesrepublik traditionell von einem gewissen Understatement geprägt: ein Ehrenamt mit Würde, nicht mit Schlagkraft. Wolfgang Thierse, Norbert Lammert, sogar Wolfgang Schäuble – so unterschiedlich ihre politischen Biografien, so verbindlich ihr Amtsverständnis: das Hohe Haus zu leiten, nicht zu lenken. Julia Klöckner aber verfolgt eine andere Strategie. Sie inszeniert sich nicht als unparteiische Dirigentin demokratischer Dispute, sondern als stilprägende Instanz – als Hüterin der Form, als Wächterin des Symbols, als Kuratorin des Sagbaren.
Dass Klöckner als erste Bundestagspräsidentin nach Bärbel Bas nicht nur den Ton im Haus verändern, sondern auch seine symbolische Ordnung neu setzen will, ist längst kein Geheimnis. Ihr Umgang mit Kleidung, Zeichen und Auftreten offenbart einen autoritären Zugriff auf das Äußere als Stellvertreterkonflikt für das Innere. Statt inhaltliche Auseinandersetzungen zu fördern, sortiert sie aus, was als angemessene Form gelten darf – und was nicht.
Die Maßnahme gegen Cansin Köktürk fügt sich dabei in ein Mosaik klöcknerscher Ordnungspolitik: Jette Nietzard, Vorsitzende der Grünen Jugend, wird wegen eines »ACAB«-Pullis gerügt – außerhalb des Plenums. Ein Abgeordneter der Linken wird wegen einer Baskenmütze des Saals verwiesen. Besucher, die »Free Palestine« rufen, werden unter Berufung auf die Hausordnung hinausgeführt. Klöckner nutzt die ihr zustehende Ordnungsgewalt, um politische Zeichen im Keim zu ersticken – nicht durch Argumente, sondern durch Ausschluss.
Dabei agiert sie formal korrekt – und politisch parteiisch. Denn ihre Maßstäbe gelten nicht für alle gleich. Solidarität mit der Ukraine, mit Israel, mit der Bundeswehr: alles zulässig. Die Grenze wird dort gezogen, wo sich das Symbol dem hegemonialen Konsens verweigert. Das ist keine Wahrung der Ordnung, sondern deren politische Inanspruchnahme.
Klöckners Selbstverständnis offenbart sich in ihrer Sprache. Sie spricht von »klaren Regeln«, die einzuhalten seien – Regeln, die jedoch vor allem durch sie selbst interpretiert und angewandt werden. Das Präsidium wird zur regulativen Instanz moralischer Sauberkeit, zur Polizei der Symbolik. Wo früher Ordnungsrufe nur im Fall echter Störungen ausgesprochen wurden, genügt nun ein Schriftzug, um den demokratischen Prozess zu unterbrechen.
In dieser Rolle liegt eine gefährliche Tendenz: Die Bundestagspräsidentin ersetzt das Ordnungsverständnis des Parlamentarismus durch eine Ästhetik des Disziplinierens. Sie agiert wie ein Hausvorstand, nicht wie eine Verfassungsfigur. Und wer ihr widerspricht, wird öffentlich als Regelbrecher gebrandmarkt – ohne Debatte, ohne Diskurs, ohne Verteidigung.
Die politische Funktion dieses Vorgehens liegt auf der Hand: In Zeiten wachsender Polarisierung soll das Präsidium als Bollwerk der »Mitte« erscheinen, als Schiedsrichterin überzogener Symbolik von links wie rechts. Tatsächlich jedoch trifft Klöckners Ordnungspolitik vor allem jene, die nicht zur staatstragenden Inszenierung passen: junge Linke, Palästina-Solidarische, Antirassismus-Aktivistinnen. Die Botschaft: Es gibt keinen Ort für eure Zeichen in diesem Haus.
Dass Klöckner selbst eng mit der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) verbunden ist – ebenso wie Volker Beck –, ist kein Skandal per se. Es wirft aber Fragen auf, wenn die Maßstäbe ihres Ordnungsverständnisses exakt entlang dieser politischen Linien verlaufen. Das Amt des Bundestagspräsidenten verlangt eine Haltung jenseits parteipolitischer Loyalitäten. Klöckners Auftreten zeigt: Diese Distanz will – oder kann – sie nicht wahren.
Die »Neutralität« ihres Amtes wird so zur Kulisse. Hinter ihr vollzieht sich ein symbolpolitischer Kampf, bei dem nicht mehr um das bessere Argument gerungen wird, sondern um die Deutungshoheit über Ordnung und Anstand. Das ist der eigentliche Tabubruch – nicht das Tragen eines Shirts mit dem Wort »Palestine«.
Gedankenspiel über das Ungesagte
Stellen wir uns vor, Julia Klöckner hätte das Shirt übersehen. Oder: Sie hätte es bemerkt – und es für das gehalten, was es war – eine stumme politische Geste im Rahmen des Sagbaren. Cansin Köktürk hätte reden dürfen. Nicht auf X. Nicht auf Instagram. Sondern im Plenarsaal. Mikrofon an, Rederecht gewährt, Aufmerksamkeit gesichert. Was hätte sie sagen können? Was hätte das Parlament hören müssen?
Vielleicht hätte sie gesprochen von der humanitären Lage im Gazastreifen. Von über 30.000 getöteten Zivilisten, davon ein Drittel Kinder. Von blockierten Hilfslieferungen. Von gezielten Angriffen auf Infrastruktur, Krankenhäuser, Schulen. Vielleicht hätte sie den jüngsten Bericht des Internationalen Gerichtshofs zitiert, der Israel vorläufig verpflichtet hat, Maßnahmen gegen einen möglichen Völkermord zu ergreifen – eine diplomatische Warnung, die in Deutschland fast ohne Resonanz blieb.
Vielleicht hätte sie gefragt, warum die Bundesregierung weiterhin Waffen an einen Staat liefert, dessen Militäraktionen auch von Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch oder Amnesty International als völkerrechtswidrig eingestuft werden. Vielleicht hätte sie daran erinnert, dass es keine moralische Kohärenz gibt, wenn man auf russische Bomben mit Sanktionen reagiert – und auf israelische mit Schweigen.
Köktürks hypothetische Rede wäre unbequem gewesen. Nicht, weil sie antisemitisch wäre – sondern weil sie das komfortable moralische Narrativ der deutschen Außenpolitik ins Wanken gebracht hätte. Weil sie daran erinnert hätte, dass Völkerrecht kein selektives Werkzeug ist. Dass der Schutz von Zivilisten nicht von ihrer Nationalität abhängen darf. Und dass politische Solidarität nicht zur moralischen Erblindung führen darf.
Vielleicht hätte sie auch gesprochen über die Angst palästinensischer Stimmen in Deutschland. Über eingeschüchterte Studierende, kriminalisierte Demonstrationen, über absurde Debatten, in denen sogar der Ausdruck »from the river to the sea« pauschal als Gewaltaufruf interpretiert wird – ungeachtet seines tatsächlichen Kontextes. Vielleicht hätte sie sich selbst zitiert: als Sozialarbeiterin, als Tochter türkischer Eltern, als Frau, die sich von links und grün gleichermaßen entfremdet hat, weil beiderseits Prinzipien unter Parteiräson verschüttet wurden.
Das alles wäre möglich gewesen. Und es wäre demokratisch gewesen. Es wäre unbequem, ja – aber nicht unanständig. Es wäre scharf, aber nicht hasserfüllt. Es wäre politisch – genau das, wofür das Parlament eigentlich da ist.
Stattdessen wurde die Debatte im Vorfeld abgewürgt. Die inhaltliche Auseinandersetzung wurde durch eine Ordnungsverfügung ersetzt. Das politische Argument wich der symbolischen Disziplinierung. Die Rede wurde unmöglich gemacht – weil das Hemd zu viel sagte.
In einem Parlament, das seine eigene Würde so definiert, dass es das politische Risiko meidet, wird aus Redezeit Erregungszeit. Aus Politik wird Etikette. Aus Auseinandersetzung wird Zensur – nicht im juristischen Sinne, sondern im kulturellen: als strukturelles Wegsehen, als Verweigerung des Konfrontativen.
Es wäre die Aufgabe des Bundestags gewesen, solche Rede auszuhalten. Nicht zu bestätigen. Nicht zu übernehmen. Sondern zu hören, zu widerlegen, zu erwidern. Stattdessen verharrt das Hohe Haus in einer Haltung, die Kritik an Israel nur dann duldet, wenn sie aus sicherem moralischem Abstand erfolgt – mit Vorbehalt, mit Relativierung, mit Entschuldigung im Voraus. Das ist kein pluralistischer Diskurs. Das ist eine Choreografie der Zustimmung.
Wenn das Wort auf dem Shirt mehr wiegt als das Wort im Plenum
Es ist ein bizarres Paradoxon: In einem Parlament, das sich als Hort der Rede, der Repräsentation, der offenen Debatte versteht, genügt ein einzelnes Wort auf einem Kleidungsstück, um einen Menschen mundtot zu machen. »Palestine« – fünf Silben, weiß auf rot, Baumwolle auf Haut – und schon ist der Raum der Rede kein Ort der Politik mehr, sondern ein Sicherheitsbereich. Die Frage, ob dieses Wort jemanden stört, wird ersetzt durch den Verdacht, es könnte stören. Die Möglichkeit der Störung wird zur Begründung der Entfernung. Die Politik kapituliert vor der Semantik.
Was hier stattfindet, ist keine Debatte über Angemessenheit. Es ist die Vorverlagerung des Unangenehmen in die Ästhetik, um sich der Auseinandersetzung zu entziehen. Die »Hygiene« des Hauses wird über den Pluralismus gestellt. Die Bekleidungsvorschrift ersetzt den politischen Diskurs. Und hinter der Bühne des Regelwerks vollzieht sich ein stiller Autoritarismus – gutbürgerlich, rechtsstaatlich imprägniert, aber im Kern feindlich gegenüber Abweichung.
Das Argument, das Klöckner und ihre Verteidiger bemühen – das Haus müsse vor Übergriffigkeit geschützt, die Ordnung gewahrt, die Würde gesichert werden –, übersieht, dass es gerade das restriktive Eingreifen ist, das die Würde beschädigt. Die Würde des Hauses liegt nicht im Schweigen, sondern im Aushalten. Sie liegt nicht im Entfernen, sondern im Ertragen. Und sie liegt vor allem in der Fähigkeit, eine Kontroverse nicht nur zu dulden, sondern sie als konstitutiv für die Demokratie zu begreifen.
Denn was heißt »Demokratie« anderes, als dass auch das Unerwünschte, das Unbequeme, das Verstörende zur Sprache kommen darf? Dass selbst das Wort, das eine Mehrheit nicht hören will, gehört werden muss? Wer diesen Grundsatz unter dem Deckmantel der Ordnung aushebelt, verkehrt die Idee des Parlamentarismus in ihr Gegenteil: in ein geschütztes Gehege des Konsenses, in dem das Symbol mehr stört als die Gewalt, über die nicht gesprochen wird.
Und ja, man darf von Symbolpolitik sprechen – auf beiden Seiten. Die Linke weiß, was sie tut, wenn sie ein »Palestine«-Shirt in den Bundestag trägt. Doch moralisch relevant ist nicht die Geste, sondern der Umgang mit ihr. Nicht das Symbol, sondern die Reaktion. Die Überhöhung eines Kleidungsstücks zur »Gefährdung der Ordnung« zeigt nicht die Stärke des Parlaments, sondern seine Fragilität. Wer sich vor einem Pullover fürchtet, sollte keine Debatten leiten.
Die Geschichte wird sich an diesen Moment kaum erinnern. Kein Untersuchungsausschuss, keine Resolution, kein Rücktritt. Und doch ist dieser Fall ein Prüfstein. Nicht für die Linke, nicht für Klöckner – sondern für die Demokratie selbst. Es ist die Frage: Wie viel Abweichung erträgt eine parlamentarische Ordnung, bevor sie zum Ritual wird? Und wie lange lässt sich die Würde des Hauses noch beschwören, wenn man sie zur Bannformel gegen das Politische macht?
Wenn das Wort auf dem Shirt das größte Problem im Bundestag ist, dann liegt das Problem nicht beim Shirt – sondern bei einem Parlament, das mehr Angst vor Symbolen hat als vor dem Verstummen seiner Substanz.