1. Auftakt im Ausnahmezustand
Der Bus kam aus Luxemburg. Drinnen saßen vier Afghanen. Keine Terroristen, keine Schleuser, keine “Gefahr für die innere Sicherheit” – lediglich Schutzsuchende. Ihre Reise endete im Mai 2025 in Trier, wo sie nach wenigen Stunden Aufenthalt im Rahmen einer neuen “Vollzugspraxis” zurückgewiesen wurden. Alexander Dobrindt (CSU), gerade 48 Stunden im Amt als Innenminister der Merz-Regierung, sendete mit dieser symbolischen Aktion eine klare Botschaft: Entschlossenheit durch Exekution.
Der “Merkur” jubelte: “Dobrindts Grenzkontrollen zeigen erste Wirkung.” Die Bürokratie rollte reibungslos, moralisch blieb es frostig. Es war eine jener Inszenierungen, die nichts lösen, aber alles demonstrieren sollen. Die Republik befand sich im Ausnahmezustand – nicht wegen Geflüchteter, sondern weil sich das politische Zentrum immer mehr an den Rand schmiegt.
2. Die neue Sprache der Macht
Friedrich Merz hat eine neue Rhetorik etabliert: alarmistisch, entgrenzend, militarisiert. Schon als Oppositionsführer sprach er von “Sozialtourismus” ukrainischer Geflüchteter. Später, im Januar 2025, nach einer Messerattacke durch einen ausreisepflichtigen Afghanen, erklärte er das “Maß für voll”. Ein “radikaler Kurswechsel” wurde verkündet. Abschiebungen sollten täglich erfolgen, nationale Regeln notfalls EU-Recht brechen.
Diese Sprache ist keine Ungeschicklichkeit, sondern Strategie: Der Mensch verschwindet hinter dem Verwaltungsakt, Flucht wird zur “illegalen Migration”, Asyl zum “Missbrauch”. Schutzsuchende erscheinen nicht mehr als Individuen mit Rechten, sondern als Sicherheitsrisiko, das verwaltet werden muss. Die politische Sprache hat ihre humanistische Prägung verloren und spricht in Begriffen der Kontrolle.
3. Der diskursive Stellvertreterkrieg
Die politische Fixierung auf Migration ist Ausdruck tieferer Krisen. Wohnungsnot, Bildungszerfall, prekäre Pflege, Energiearmut – keine dieser Herausforderungen ist durch Migration verursacht. Vielmehr sind sie Symptome einer Überdehnung des Systems im Dienst der Profitlogik. Nancy Fraser nennt dieses Modell “progressiven Neoliberalismus” – ein System, das gesellschaftliche Verantwortung privatisiert, politische Gestaltung auf Standortpolitik reduziert und Menschen auf ihre Verwertbarkeit taxiert.
Migration wird in diesem Kontext zur Projektionsfläche einer Gesellschaft, die ihre Konflikte nicht zu lösen, sondern zu verschieben gelernt hat. Joseph Vogl spricht von einer “Krisensimulation”: Die Kontrolle von Migration wird zur Ersatzhandlung für das Management des Systemversagens. Das Fremde wird zur Ordnungskategorie für eine Welt, die sich selbst nicht mehr erklären kann.
4. Sprache als Waffe – das Framing des Anderen
Die Begriffswahl hat sich radikalisiert. Von “Flüchtlingswellen”, “Asylfluten” und “Grenzstürmern” ist die Rede. Der Diskurs ist durchsetzt mit Begriffen, die der Kriegssemantik entlehnt sind. Heribert Prantl warnt: “Wo die Sprache militarisiert ist, ist die Politik nicht weit davon entfernt, den Ausnahmezustand zur Norm zu erklären.”
Diese Sprache schafft Realität. Der Geflüchtete wird zur Chiffre für Bedrohung, zur Metapher einer Gesellschaft im Kontrollverlust. Die Medien, ob Springer-Presse oder öffentlich-rechtliche Kommentatoren, tragen ihren Teil dazu bei: teils affirmativ, teils “realpolitisch pragmatisch”. Der Diskurs wird nicht gebrochen, sondern verbreitert.
5. Die stille Verwandlung der Demokratie
Mit der Sprache ändert sich das Recht. Was als Notmaßnahme begann – Grenzkontrollen, Schnellverfahren, AnkER-Zentren – ist zur Infrastruktur des Alltags geworden. Die Politik des Ausnahmezustands wird normalisiert. Verfassungsrechtler wie Maximilian Pichl sprechen von einem “Verwaltungsstaat im Ausnahmezustand”. Menschenrechte gelten weiterhin – aber nicht für alle.
Die Überwachung wird digitalisiert, die Bewegungsfreiheit reglementiert, die Identität entmenschlicht. Migration wird zur Akte, der Mensch zur “leistungspflichtigen Ausländergruppe”. Was an den Rändern beginnt, verschiebt das Zentrum.
6. Klassenerosion durch Identitätspolitik
Wolfgang Streeck formuliert es unmissverständlich: “Wenn soziale Klassen nicht mehr als politische Kategorien wahrgenommen werden, übernehmen kulturelle oder ethnische Unterschiede diese Rolle.” Der Klassenkampf wird durch einen Kampf der Identitäten ersetzt – ein Dienst am Fortbestand der kapitalistischen Ordnung.
Der Geflüchtete ist darin nicht Auslöser, sondern Werkzeug: Er dient zur Fragmentierung der Lohnabhängigen, zur Verschiebung von Konfliktlinien. Didier Eribon spricht von der “Rückkehr nach Reims” als Rückzug der Linken aus den sozialen Kämpfen. Migration wird zur Nagelprobe für eine Gesellschaft, die lieber verwaltet als gestaltet.
7. Das Ende der Empathie
In der Statistisierung der Debatte geht der Mensch verloren. Wer nach Jahren der Flucht in einem Containerdorf landet, erfährt keine Hilfe, sondern Misstrauen. Integration heißt nicht Teilhabe, sondern Anpassung unter Druck.
Psychologin Martina Ruf spricht von einer “doppelten Verletzung”: Erst die Flucht, dann die Entrechtung im Ankunftsland. Die Geschichten der Betroffenen stören den reibungslosen Diskurs. Ahmed, ein junger Syrer in Leipzig, sagt: “Ich bin nicht hergekommen, um Angst zu machen. Ich bin hergekommen, weil ich selbst Angst hatte.”
8. Schluss: Wer schweigt, grenzt mit
Die politische Kultur der Bundesrepublik steht an einem Kipppunkt. Was einst als rechts galt, ist zur Mitte gerutscht. Der Tabubruch – Zusammenarbeit mit der AfD bei migrationspolitischen Anträgen – ist kein Unfall, sondern Symptom.
Byung-Chul Han beschreibt die Angstgesellschaft als eine, die Angst zur Regierungstechnik macht. Und tatsächlich: Die Migrationspolitik der Gegenwart ist keine Reaktion auf Gefahr, sondern eine Inszenierung von Kontrolle zur Stabilisierung des bröckelnden Systems.
Eine Demokratie, die den Einzelnen vergisst, verliert ihre Mitte. Und wer den Geflüchteten zum Sündenbock macht, betreibt keine Sicherheitspolitik, sondern Klassenkampf von oben.
Literatur- und Quellenverweise
- Fraser, Nancy: Der Allesfresser Kapitalismus – und was dagegen zu tun ist. Suhrkamp, 2023.
- Vogl, Joseph: Der Souveränitätseffekt. Suhrkamp, 2015.
- Streeck, Wolfgang: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Suhrkamp, 2013.
- Eribon, Didier: Rückkehr nach Reims. Suhrkamp, 2016.
- Han, Byung-Chul: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. Fischer, 2014.
- Prantl, Heribert: Beiträge in der Süddeutschen Zeitung, u. a. „Grenze zur Barbarei“ (2023).
- Pichl, Maximilian: Juristische Kommentare zur Aushöhlung des Grundrechts auf Asyl, u. a. in Verfassungsblog.de.
- Ruf, Martina: Interviews zur Psychotraumatologie Geflüchteter, u. a. in taz, Mai 2025.
- Lessenich, Stephan: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. Hanser, 2016.
- Heitmeyer, Wilhelm: Studien zum „autoritären Nationalradikalismus“, Universität Bielefeld, diverse Veröffentlichungen.
- Walter, Franz: Die heimliche Rückkehr der Ideologien. Vandenhoeck & Ruprecht, 2021.
- Mediendienst Integration: Faktencheck Migration, Ausgabe Februar 2025.
- IAB (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung): Zahlen zur Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten, 2024.
- Berichterstattung u. a. aus: FAZ, Tagesschau, WELT, BILD, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Rundschau (2022–2025).