Ich habe es nicht so mit Vorbildern. Es gibt nur wenige Menschen, denen ich mich in gedanklicher Nähe verbunden fühle. Einer von ihnen ist Kurt Tucholsky, der einzigartige, ehrliche und wortgewaltige Schriftsteller, von dem ich nicht genug lesen kann. Sein Satz, dass Soldaten Mörder seien, mag für manche provokant erscheinen, doch ich kann seine Anklage gut nachvollziehen. Wer glaubt wirklich, dass das Fußvolk im Kampf nützlicher ist als Diplomatie? Gewalt erzeugt immer Gegengewalt – im Kleinen wie in der großen Politik.
Auch Bertolt Brecht zählt zu meinen geistigen Begleitern, obwohl ich seine politische Unklarheit kritisiere. Der Marxismus als Werkzeug zur Stärkung von Haltungen und sozialer Kompetenz hat seinen Wert. Doch Brecht hätte seine dramatischen Einsichten öfter in sein persönliches Handeln einfließen lassen sollen. Seine Nähe zu stalinistischen Gegebenheiten wirft bis heute unbeantwortete Fragen auf.
Erich Mühsam, der dritte im Bunde, ist mir sogar noch näher, obwohl wir uns nie begegnet sind. Mit seinem Buch “Psychologie der Erbtante” bin ich viele Jahre landauf, landab getingelt und habe fast 140 Lesungen veranstaltet. Mühsam hat mich auf besondere Weise berührt. Seine Argumentation für den Anarchismus, die Ursprünglichkeit seiner Gedanken, den Menschen Gutes zu tun und sicherzustellen, dass keiner so viel besitzt, dass er andere ausbeuten kann – all das hat mich tief beeindruckt. Man stelle sich vor, jemand würde heute den gesellschaftlichen Schalter auf “Wir” statt “Ich” stellen. Wir brauchen mehr Wegbegleiter vom Schlage eines Mühsam!
Ich habe alle seine öffentlich verfügbaren Schriften gelesen, einschließlich der angeblich politisch anrüchigen. Anrüchig fand ich sie nie. Vielmehr bieten sie einen Werkzeugkasten, um Kriege zu verbannen und Gerechtigkeit in die Gesellschaft zu bringen.
Erich Mühsam wurde vor 90 Jahren, in der Nacht zum 10. Juli 1934, im KZ Oranienburg durch die SS hingerichtet. Sein Tod wurde im nationalsozialistischen Deutschland als “Selbstmord” ausgegeben, doch die Wahrheit war ein grausamer Mord. Mühsam, der für eine freie und herrschaftslose Gesellschaft kämpfte, wurde zu einem der ersten prominenten Opfer des NS-Regimes. Seine Ermordung lenkte international den Blick auf den Terror der Nazis, blieb jedoch folgenlos.
Mühsam war ein Kämpfer für die Unterdrückten, Leidenden und Enterbten. Seine schneidende Schärfe und sein Humor machten ihn zum Anwalt der Menschlichkeit. “Sich fügen heißt lügen” – dieser Satz spiegelt seinen Geist wider. Er trat für eine Gesellschaft brüderlicher Menschen ein, deren Wirtschaftsbund Sozialismus heißt, und definierte Anarchie als Herrschaftslosigkeit.
Schon als Schüler widersetzte sich Mühsam Autoritäten und wurde wegen “sozialistischer Umtriebe” vom Gymnasium verwiesen. Seine spätere Beteiligung an der Münchner Räterepublik brachte ihm 1919 eine Verurteilung zu 15 Jahren Festungshaft ein, von denen er ein Drittel absitzen musste. Nach der Machtübernahme der Nazis wurde er verhaftet und fast 17 Monate lang in Gefängnissen und Konzentrationslagern schwer misshandelt, bis er im KZ Oranienburg ermordet wurde.
Rudolf Rocker, ein Freund und politischer Weggefährte Mühsams, bezeichnete dessen Tod als eine der großen Tragödien unserer Zeit. Mühsams Grab auf dem Waldfriedhof in Berlin-Dahlem ist heute ein Ehrengrab des Landes Berlin. In einem seiner Gedichte schrieb Mühsam: “Wollt ihr denen Gutes tun, die der Tod getroffen, Menschen, lasst die Toten ruhn und erfüllt ihr Hoffen.”
Diese Worte erinnern uns daran, dass sein Erbe weiterlebt und sein Hoffen auf eine gerechte und friedliche Welt noch immer erfüllt werden muss.