In einem Interview mit dem Sender »Deutschlandfunk Kultur« spricht die politische Philosophin und Publizistin Lea Ypi über die Idee des »moralischen Sozialismus«, ein Konzept, das sie im Rahmen ihrer diesjährigen »Benjamin Lectures« (19. bis 21.6.24) in Berlin vorstellt. Ypi, bekannt für ihre Werke und Vorträge, verbindet Aufklärung und Marxismus und plädiert für eine tiefgreifende moralische Reform des Sozialismus.
Die Frage nach der Freiheit
»Freiheit scheint überhaupt ein zentrales Thema zu sein bei Lea Ypi,« beginnt Catherine Newmark das Interview, und tatsächlich ist Freiheit das zentrale Motiv in Ypis Werk. Ihr neuestes Buch, »Die Architektonik der Vernunft«, wie auch ihr bekanntestes Buch »FREI – Erwachsen werden am Ende der Geschichte«, beleuchten beide die komplexe Beziehung zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlichen Strukturen. Besonders eindrucksvoll ist Ypis autobiografische Erzählung über ihre Kindheit in den letzten Jahren des kommunistischen Albaniens und den Übergang in eine neue Freiheit nach dem Fall des Kommunismus.
Was ist moralischer Sozialismus?
Auf die Frage, auf welche Problematik der »moralische Sozialismus« eine Antwort sein soll, erläutert Ypi: »Die Frage lautet, was ist falsch am Kapitalismus? Und die Antwort versucht eine Kritik des Kapitalismus zu liefern, die mit der Frage nach der Moral beginnt.« Diese Kritik richtet sich gegen die Ungleichheiten und Machtasymmetrien, die das kapitalistische System durchziehen und oft untergraben, wer wir sind und was wir sein könnten.
Ypi argumentiert, dass der Begriff »moralisch« entscheidender ist als der Begriff »Sozialismus«. Sie plädiert für eine Wiederentdeckung und Weiterentwicklung der sozialistischen Kritik am Kapitalismus, indem aus den Fehlern des Realsozialismus gelernt wird. »Was der moralische Sozialismus, so wie ich ihn verstehe, versucht, ist, darüber nachzudenken, wie wir weltweit für Freiheit sorgen können und die sozialistische und liberale Tradition als etwas zu betrachten, das charakterisiert ist von einem gemeinsamen Streben nach Freiheit,« erklärt Ypi.
Sozialismus und Demokratie
Eine zentrale These Ypis ist die Unvereinbarkeit von Kapitalismus und Demokratie. »Kapitalismus und Demokratie sind nicht kompatibel,« so Ypi. Sie schlägt vor, sich den Sozialismus als radikale, weltweite Demokratie vorzustellen, die die Besitzverhältnisse neu denkt und ungleiche Zugänge zu Eigentum hinterfragt.
Freiheit als moralische Handlungsfähigkeit
Ypis Verständnis von Freiheit ist tief in der deutschen idealistischen Tradition verwurzelt, inspiriert von Philosophen wie Immanuel Kant und Karl Marx. Sie beschreibt Freiheit als »moralische Handlungsfähigkeit«, eine innere Eigenschaft jedes menschlichen Akteurs, die es erlaubt, in eine moralische Richtung zu denken und zu handeln. Diese moralische Freiheit kann jedoch in den kapitalistischen Strukturen nicht voll realisiert werden, da sie Phänomene wie Entfremdung und Unsicherheit erzeugen.
Kritik an Kapitalismus und Ausblick
Ypi betont, dass eine radikale Kritik des Kapitalismus notwendig ist, um echte Freiheit und Gleichheit zu erreichen. Sie fordert ein neues gesellschaftliches Projekt, das die verschiedenen Kämpfe – ob gegen Rassismus, für Geschlechtergerechtigkeit oder Umweltschutz – in einer gemeinsamen Anstrengung bündelt. »Was wir brauchen, ist vor allem eine radikale Kritik des Kapitalismus als System und eine progressive Alternative, die formuliert, was diese antikapitalistische Vision sein sollte,« so Ypi.
Ypis Ideen bieten eine spannende und innovative Perspektive auf die Zukunft des Sozialismus und der globalen Demokratie. Ihre Vorträge in Berlin bieten sicherlich tiefergehende Einblicke und sind ein Muss für alle, die sich für politische Philosophie und gesellschaftliche Veränderungen interessieren.