Mandy Trögers Beitrag »Eine Kritik der Ideologie der ‚freien Presse‘ zur Wendezeit 1989/1990« beleuchtet die Umgestaltung der DDR-Presselandschaft durch westdeutsche Verlagskonzerne und die Bundesrepublik Deutschland. Der Fokus liegt dabei auf der Nutzung des demokratischen Ideals der »freien Presse« als politisches Mittel und dessen Umsetzung in der Praxis. Tröger zeigt auf, dass die westdeutschen Akteure primär ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen verfolgten, während alternative Visionen einer demokratischen Presse chancenlos blieben. Die Untersuchung umfasst den Zeitraum vom Mauerfall am 9. November 1989 bis zur deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 und konzentriert sich auf die Rhetorik und Handlungen der westdeutschen Akteure im Kontext der DDR-Pressetransformation.
Die Ideologie der »freien Presse«
Die westliche »freie Presse« gilt als Grundlage für demokratische Gesellschaften und ist historisch eng mit marktwirtschaftlichen Interessen verknüpft. Tröger beschreibt, wie das US-amerikanische »hegemonic western model of journalism« nach dem Zweiten Weltkrieg auch in der Bundesrepublik etabliert wurde. Die Pressefreiheit wurde hier vor allem als Freiheit des Verlegers verstanden, was durch das Grundgesetz und die Landespressegesetze geregelt ist. Mit den politischen Umbrüchen in Osteuropa um 1990 erhielt dieses Modell auch dort normative Gültigkeit.
Im April 1992 verwies das Europäische Parlament auf ein strukturelles Paradoxon: Die »freie Presse« übernimmt die Aufgabe einer öffentlichen Einrichtung, ist aber gleichzeitig den Gesetzen des Marktes unterworfen. Diese Widersprüche zeigen sich auch in der DDR-Pressetransformation, wo westdeutsche Verlage demokratische Grundsätze als politisches Mittel nutzten, jedoch praktisch den »Gesetzen des Marktes« folgten. Tröger betont, dass die Ideologiekritik diese Mechanismen sichtbar machen soll, um die Durchsetzung eigener Interessen durch dominante Gruppen zu analysieren.
Die »freie Presse« zur Wendezeit
Die Wendezeit bot alternative Visionen für die Gestaltung einer »freien Presse«. Ziel war der Bruch des SED-Informationsmonopols und die Durchsetzung von Meinungs-, Medien- und Informationsfreiheit. Es wurden Institutionen wie der basisdemokratische Medienkontrollrat (MKR), das Ministerium für Medienpolitik (MfM) und der Ausschuss für Presse und Medien der Volkskammer gegründet, um diese Ziele zu erreichen. Medienminister Gottfried Müller betonte, dass es keine Lösung sei, einfach westliche Modelle zu übernehmen. Dennoch hatten diese alternativen Visionen gegen die wirtschaftlichen Interessen westdeutscher Verlage wenig Chancen.
Die »freie Presse« expandiert
Bereits im März 1990 begannen westdeutsche Verlage wie Springer, Bauer, Burda und Gruner + Jahr (G+J) ohne rechtliche Grundlage mit dem Vertrieb ihrer Titel in der DDR. Medienminister Müller kritisierte diese Praxis als rechtswidrig und betonte die Notwendigkeit eines verlagsunabhängigen Vertriebs zur Sicherung der Pressefreiheit. Diese Episode zeigt die frühen Konflikte zwischen westlichen und östlichen Vorstellungen von Pressefreiheit. Während die westlichen Verlage eine kapitalistische »freie Presse« in die DDR bringen wollten, strebte das MfM eine freie Presse nach demokratischen Idealen an.
Der deutsch-deutsche Presseaustausch
Am 19. Dezember 1989 vereinbarten Helmut Kohl und Hans Modrow den freien Presseaustausch zwischen BRD und DDR. Dies führte zu Expertengesprächen, bei denen westdeutsche Verlage ihre Interessen durchsetzten. Der DDR-Delegationsvorsitzende Ralf Bachmann betonte die Notwendigkeit von Unterstützung für einen wechselseitigen Presseaustausch, der jedoch nie realisiert wurde. Stattdessen führte die Übereinkunft zur einseitigen Presseübernahme durch westdeutsche Verlage, was die strukturelle Überlegenheit der BRD-Presse gegenüber der DDR-Presse verdeutlichte.
Das BMI und die Großverlage
Das Bundesministerium des Innern (BMI) unterstützte die westdeutschen Verlage in ihrem Bestreben, westliche Presseprodukte in der DDR zu verbreiten. Trotz rechtlicher Grauzonen und starker Proteste DDR-interner Institutionen agierten die Verlage im Interesse eines schnellen Zugangs zur DDR-Bevölkerung vor den Wahlen. BMI-Ministerialdirektor Erich Schaible betonte die Bedeutung einer freien Presse für den demokratischen Meinungsbildungsprozess in der DDR und unterstützte die »flexible und unkonventionelle Handlungsweise« der Verlage.
Der »Presse-Coup«
Am 5. März 1990 starteten die westdeutschen Verlage ihren Direktvertrieb in der DDR ohne rechtliche Genehmigung. Dies wurde als »Presse-Coup« bezeichnet und führte zur regionalen Aufteilung der DDR durch die Verlage. Der Vertrieb eigener Titel verschaffte den Großverlagen einen Marktvorsprung und bedrohte die wirtschaftliche Existenz vieler DDR-Zeitungen. Trotz der Proteste von DDR-Institutionen und dem Medienkontrollrat setzten die westdeutschen Verlage ihre Aktivitäten fort.
Die »freie Presse« im Preiskrieg
Der systematische Pressetransfer in die DDR führte zu einem beispiellosen Preiskrieg zwischen den westdeutschen Verlagen. Die aggressive Preispolitik, insbesondere im Segment der Fernsehzeitschriften, verstärkte die Wettbewerbsnachteile der DDR-Verlage. Subventionen für DDR-Zeitungen wurden gestrichen, was sie weiter in die Abhängigkeit von westdeutschem Kapital und Expertise trieb. Trotz der Proteste von DDR-Verlagen und Institutionen konnten diese den Preiskrieg nicht verhindern.
Die scheinbar neutrale Bundesregierung
Die Bundesregierung der DDR wandte sich an das BMI, um gegen die unlauteren Wettbewerbsmethoden der westdeutschen Verlage vorzugehen. Das BMI erklärte jedoch, keine rechtliche Handhabe zu haben, und unterstützte die Interessen der Großverlage. Die DDR-Regierung wurde vor eine Wahl gestellt, die keine war, und musste letztlich die von den westdeutschen Verlagen entwickelten Modelle akzeptieren.
Fazit
Trögers Analyse zeigt, dass die westdeutschen Verlagskonzerne und die Bundesregierung die Ideologie der »freien Presse« nutzten, um ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen in der DDR durchzusetzen. Die Rhetorik der »freien Presse« diente vor allem der Legitimation der westdeutschen Expansion auf dem DDR-Markt. Alternative Visionen einer demokratischen Presse blieben chancenlos. Der Kampf um die DDR-Pressefreiheit war letztlich ein Kampf zwischen zwei Ideologien: einer »freien Presse« durch Marktregulierung für inneres Wachstum und einer »freien Presse« durch marktwirtschaftliche Expansion. Letztere setzte sich durch, was zu massiven Wettbewerbsnachteilen und dem Bankrott vieler DDR-Verlage führte.
Literaturverzeichnis
Tröger, Mandy. 2019. »Eine Kritik der Ideologie der ‚freien Presse‘ zur Wendezeit 1989/1990«. In Ideologie, Kritik, Öffentlichkeit. Verhandlungen des Netzwerks Kritische Kommunikationswissenschaft, herausgegeben von Uwe Krüger und Sebastian Sevignani, 104–123. Universität Leipzig. DOI: 10.36730/ideologiekritik.2019.6
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